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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes
Autoren: Christoph Ransmayr
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Bruchbude sein sollen? Wer hatte denn Wagenladung um Wagenladung voll Schotter aus den Inn-Auen hier heraufgeschleppt, um diese Keusche zu dem zu machen, was sie nun war? Wer hatte wie ein Vieh gearbeitet, um aus dieser sogenannten Erbschaft erst wieder einen Hof zu machen – und wer ging vor und nach der Stallarbeit und Heuarbeit und Holzarbeit und schon zu nachtschlafender Zeit als Briefträger über die Weiler und krümmte sich dazu für ein paar lächerliche Groschen mit Spitzhacke, Brecheisen und Schaufel in den Baugruben fremder Leute, um die Familie erhalten zu können – vier Kinder, eine sechsköpfige Familie! und dazu noch bettlägerige Schwiegereltern waren nicht mit dem Ertrag von ein paar sauren Wiesen und mageren Kühen zu ernähren.
    An diesem milden, nebeligen Morgen nach dem Dreikönigstag war zwischen den Eltern kein Wort mehr gefallen. Kein Vorwurf, kein Gruß. Selbst die Frage des Vaters, ob er den Tierarzt verständigen solle wegen einer vom Durchfall geschwächten, trächtigen Kuh, war unbeantwortet geblieben. Dann hatte der Bruder die Futtertische im Stall durch die Bodenluke mit Heu beworfen und hatte das Mädchen die beiden jüngeren Geschwister gewaschen, ihnen beim Ankleiden geholfen und dann gemeinsam mit ihnen geschnitzte Schäfchen und Hirten in einer bethlehemitischen Landschaft aus bemaltem Pappmaché neu geordnet, in der drei Könige aus Holz vor einem neugeborenen, hölzernen Gott und seinen hölzernen Eltern knieten. Auch am Frühstückstisch herrschte eine böse Stille, in der das Mädchen mit einer rasenden Zahlenfolge zu bestimmen versuchte, wie oft das Feuerholz im Ofen knackte, dann aber seine Zählung abbrach, weil eines der Geschwister wegen einer verlorenen Puppe zu schluchzen begann.
    Auf dem Schulweg durch den Schnee und die weiße Nebelwelt wollte der Bruder weder an den Abend noch an das Geschrei in der Nacht und die wortlose Stille am Morgen erinnert werden. Aber das Mädchen sehnte sich nach einem besänftigenden, befreienden Wort und suchte noch einmal seine Hand. Die Flocken fielen nun dichter. Das Feld, über das sie gewöhnlich in den Tritten des Vortages stapften, trug nach den Schneefällen der vergangenen Feiertage keine Spuren mehr, und auch der Feldrain, eine Reihe kahler Birken, kahler Wildkirschenbäume und kahler Haselnußsträucher waren im Nebel versunken. Allein die unter jedem Schritt knisternden Wellen verschneiter Ackerfurchen liefen dorthin zurück, woher sie gekommen waren, und liefen ihnen zum Dorf voraus, in ein Klassenzimmer, in dem es gewiß auch an diesem Morgen wieder zu kalt war.
    Irgendwo in diesem endlosen Weiß war jetzt Hundegebell zu hören, ein wütendes, heiseres Kläffen, seltsam nahe, näher als an anderen Tagen. Das war der Hofhund eines entfernten Nachbarn und der Grund dafür, warum der Schulweg stets über diesen Acker führte. Der Hund. Es gab nichts, was das Mädchen mehr fürchtete als Hunde, als diesen Hund. Dochdoch, es gab etwas, aber das war im Winter keine große Gefahr: Ein Gewitter, das Krachen des Donners, das blendende Aufflammen und das den ganzen Himmel sprengende Wurzelwerk der Blitze … das alles fürchtete das Mädchen noch mehr als Hunde.
    Gewiß, der Nachbar hielt diesen Hund, einen struppigen Wolfshund, zumeist an der Kette. Aber gerade an dieser Kette, die ihm das Fell vom Hals geraspelt und dort einen schwärenden Streifen hinterlassen hatte, war er scharf geworden, böse. Selbst der Vater hatte sich vor seinen Zähnen nicht zu schützen vermocht, als er dem Nachbarn als Postbote einen eingeschriebenen Brief des Bezirksgerichtes zu überbringen hatte und dem Kettenhund dabei unbedacht zu nahe gekommen war. Der Hund hasse eben Uniformen, hatte der Nachbar damals gesagt.
    Aber war die Bestie heute wirklich an der Kette? Oder ließ der Nachbar sie wieder einmal frei laufen, damit sie einen im Nebel verborgenen Grenzverletzer anspringen konnte?
    Der Bruder fürchtete sich nicht. Nicht vor diesem Hund und vor keinem. Der konnte mit Hunden so reden, daß sie aufhörten zu bellen, oder konnte ihnen mit einem Stein oder einem Stock in einer Art drohen, daß sie
ihn
fürchteten. Ja, der Bruder brauchte einen Stein nicht einmal in die Hand zu nehmen, sondern sich bloß entschlossen danach zu bücken, um Hunde in die Flucht zu schlagen. Und daß er diesen mühseligen Umweg, Schultag für Schultag dieses Gestapfe über den Acker, auf sich nahm, tat er nur seiner Schwester zuliebe, nein: tat er, weil es ihm von den
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