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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes
Autoren: Christoph Ransmayr
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Eltern befohlen worden war. An diesem Morgen machte ihn sein Gehorsam wütend. Den am Nachbarhof vorüberführenden Güterweg hatte der Schneepflug geräumt. Aber hier war der Schnee ohne Spuren und tief.
    Laß mich in Ruhe! Laß mich in Ruhe, sagte er jetzt zu seiner Schwester. Und noch einmal: Laß mich in Ruhe. Aber die war schon still. Die blickte im Gehen unverwandt in das Nebelweiß, aus dem das Hundegebell drang. Und jetzt doch näher kam? Näher kam? Hatte der Hund sich losgerissen? Das Mädchen griff nach der Hand ihres Bruders. Der Bruder sollte sie an der Hand nehmen. Sie fürchtete sich. Sie fürchtete sich sehr.
    Aber der stieß ihre Hand jetzt nicht bloß von sich, sondern schlug sie zurück. Der war wütend. Der wollte nicht mehr länger gehorchen und wollte auch kein Schwestern- und Mädchenbeschützer mehr sein. Der hatte genug. Der begann plötzlich, schneller und schneller zu gehen und schließlich zu laufen, lief … ja, lief ihr davon in dieses Weiß, aus dem das Gebell kam.
    Das Mädchen hätte auch ohne dieses Gebell nicht Schritt halten können mit dem um mehr als einen Kopf größeren Bruder, aber dorthin, wohin der jetzt lief, wäre sie ihm selbst dann nicht gefolgt, wenn sie so groß gewesen wäre wie er. Um nichts in der Welt. So blieb sie zurück, mußte zurückbleiben und sehen, wie sich seine Spur verlor, hören, wie sich das Geräusch seiner Schritte verlor. Und dann war sie allein in einem undurchdringlichen Weiß, allein mit dem Gebell.
    Sie stand still, wagte keinen Schritt mehr. Konnte sie in der eigenen Spur zurücklaufen? Auch von dort drang jetzt Gebell in ihre Verlassenheit. Es war, als ob sie von einem ganzen Rudel bissiger Hunde umgeben wäre, einem brüllenden, geifernden Kreis, in dem sie gefangen stand, gelähmt und gefangen.
    Aber jetzt … Was war das für ein blendendes Licht?, was war das für ein furchtbares Licht!
    Wie eine aus dem Gebell springende Flamme schlug plötzlich ein Blitz, und noch einer!, durch das bellende Schneeweiß, ein Blitz am Morgen nach dem Dreikönigstag! Ein Blitz im tiefen Winter. Und diesem Blendlicht, das einen kurzen, davonjagenden Schatten aus ihrer Gestalt riß und das Schneegestöber in einen Hagel grauer Kiesel verwandelte, folgte ein ohrenbetäubender Donnerschlag, der ihre Angst zu etwas werden ließ, das mehr zum Tod als zum Leben gehörte.
    Im Wintergewitter dieses Morgens mußte das Mädchen zum erstenmal in seinem Leben erfahren, daß das Entsetzliche weder an Jahreszeiten noch an Orte gefesselt war, sondern seine Opfer in jedem Augenblick und an jedem Ort überfiel. Das Mädchen hörte seine eigene Stimme nicht mehr, sein Weinen, nur noch Gebell und Donnerschläge. Dazu schleuderte ihr ein weiterer Blitz gelbe und rote Blendungsbälle in die Augen, die selbst dann noch weitersprangen, als sie die Hände vors Gesicht schlug. Wie auf einer vor der Schultafel entrollten Landkarte sah das Mädchen jetzt, daß von hier nur eine Spur in den unerreichbaren Schutz des elterlichen Hofes zurückführte und eine zweite in den unerreichbaren Schutz des Dorfes, und glaubte sich am Ende aller Wege, nicht nur jener durch den Schnee.
    Und dann berührte plötzlich etwas Warmes, Weiches, ihre vom Weinen geschüttelte Schulter, etwas Sanftes und gleichzeitig so Mächtiges, daß davon etwas Erlösendes ausgehen und ihren ganzen Körper durchdringen konnte. Und sie spürte, wie Lähmung und Verzweiflung sie innerhalb eines einzigen Atemzuges freigaben, und wandte den Kopf und sah auf ihrer Schulter die Hand des Bruders.
     
    Ich habe die Wiesen und angrenzenden Felder, über die Bruder und Schwester an diesem Wintermorgen gestapft waren, zu allen Jahreszeiten gesehen – blühend, wogend im Wind, spätherbstlich wüst, beschneit. Ich habe mit der Frau, zu der dieses Mädchen geworden ist und die neunzehn Jahre meines Lebens mit mir geteilt hat, den Winterweg von damals auf vielen Spaziergängen wiederholt, und wenn sie dabei vom Gebrüll im Gasthaus erzählte, den wütenden Stimmen in der Nacht, vom Kettenhund des Nachbarn, den Blendungsbildern in ihren Augen oder vom Schneegestöber und dem Krachen der Donnerschläge, nahm sie manchmal unwillkürlich meine Hand.
    Nach unserer Trennung und ihrem frühen Tod bin ich diesen Weg nie wieder gegangen. Aber wenn ich nun an diesen Feldern und Wiesen vorüberfahre, zu welcher Jahreszeit auch immer, fahre ich durch weiße Flockenwirbel, und auf dem Land liegt Schnee.

Die Ankunft
    Ich sah drei flüsternde
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