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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes
Autoren: Christoph Ransmayr
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gefunden zu haben. Denn wenn es in dieser Unendlichkeit tatsächlich noch ein zweites Land gab, dann mußte dort, sichtbar oder unsichtbar, der wohnen, dem das Dasein der fernen Heimat und von Himmel und Erde und allem, was im Wasser oder an der Luft lebte, zu verdanken war – ein Allmächtiger, den sie
Make-Make
nannten.
    Der dünne Mann war auf dem Weg von Puerto Montt nach Hause, nach Hanga Roa, dem nach einer jahrhundertelangen Geschichte der Entvölkerung einzigen noch bewohnten Ort der Osterinsel. Sein Vater, hatte er schon am ersten Abend nach dem Auslaufen aus Puerto Montt in der Bar auf dem Achterdeck erzählt oder auch bloß vor sich hin gesagt, sei ein Argentinier gewesen, der sein Leben auf Ölbohrinseln verbracht habe, seine Mutter aber eine Rapa Nui.
    Das weite, mit Meeresfischen auf tiefblauem Grund bedruckte Buschhemd, das den dünnen Mann umflatterte, war durchnäßt von der Gischt, die manchmal bis zum Handlauf der Reling hochschäumte, und wenn der Wind den nassen Stoff für einen Augenblick an seinen Brustkorb drückte, erschien seine Gestalt noch zerbrechlicher und abgezehrter. Der dünne Mann war mir bereits am ersten Morgen nach dem Auslaufen am Frühstücksbüffet aufgefallen, als er ein Stück Lachs, dann ein Stück Schinken, dann ein Stück Honigmelone auf seinen Teller gelegt, einen Augenblick innegehalten und dann Schinken, Lachs und Melone doch wieder auf den überladenen Altar des Büffets zurückgelegt und zu einer Schale Tee nur ein Stück dunkles Brot gegessen hatte.
    Richtig, sagte er später, es war im Verlauf eines langen Abends, am dritten oder vierten Tag unserer Bekanntschaft, Essen sei für ihn oft eine quälende Verpflichtung. Eigentlich habe er niemals Hunger und müsse sich manchmal selbst zum Trinken zwingen. Und dennoch verfolge ihn das Gefühl, so schwer und massig wie eine der Moais, der kolossalen Steinfiguren auf der Osterinsel, zu sein, für deren Herstellung und Transport die Rapa Nui über die Jahrhunderte alle ihre Kräfte erschöpft und ihre Palmenwälder, ihre Fischgründe, ihre Gärten und Felder und schließlich sogar den Frieden zwischen den Clans der Insel geopfert hatten.
    Diese Figuren, die alle dem Meer den Rücken zuwandten und so ausnahmslos ins Landesinnere und damit vielleicht sogar ins Innerste ihrer Bewohner starrten, seien lange Zeit Monumente eines Ahnenkults gewesen, der die Gegenwart mit der Ewigkeit verbinden sollte. Aber nach und nach seien sie zu Macht- und Statussymbolen verkommen und gewachsen und größer, immer größer geworden und hatten schließlich das Leben auf der Insel aufzufressen begonnen.
    Im Tuffsteinbruch Rano Raraku, aus dem fast alle der Moais geschlagen und dann zu den über die ganze Osterinsel verstreuten Zeremonialplattformen,
Ahus
,
geschleppt worden waren, sagte der dünne Mann, seien noch heute nebeneinander und übereinander und immer noch mit dem Fels verwachsene Kolosse von zwanzig Metern Höhe und mehr zu sehen – und konnten dort nun bis in alle Ewigkeit darauf warten, endlich vom Fels gelöst, aufgerichtet und in mühseligen Prozessionen auf rollenden Palmenstämmen zu ihren Ahus transportiert zu werden. Denn am Ende hatten die Rapa Nui, versklavt von ihren eigenen steinernen Geschöpfen, ihre Insel in ein baum- und strauchloses Ödland verwandelt und hatten keine Mittel und keine Kräfte mehr für die Fertigstellung und Bewegung der vermeintlich mächtigsten, in Wahrheit aber bloß letzten Kolosse.
    Der Hunger!, war der dünne Mann überzeugt, der Hunger sei vielleicht die verborgene und wahre Bestimmung dieses Volkes, seines Volkes, gewesen. Denn als alles, was zu fällen war, gefällt, alles, was zu fischen und zu jagen war, gefischt und erjagt, die Palmenhaine verschwunden und nicht einmal genug Holz geblieben war, um noch Fischerboote zu bauen, waren die Clans, die das Inselreich bis dahin unter sich geteilt und bestellt hatten, übereinander hergefallen, hatten die unter unsäglichen Mühen errichteten Moais der jeweiligen Nachbarn gestürzt, enthauptet und sich am Ende nicht nur gegenseitig umgebracht, sondern auch gefressen. Daß durch die Ruinen der Welt der Rapa Nui schließlich noch Kolonialherren trampelten, die riesige Schaf- und Rinderherden über das entvölkerte Land trieben, die letzten Bewohner der Insel in umzäunte Areale verbannten oder als Sklaven zum Guanoabbau an die peruanische Steilküste verschleppten, war nur die Vollendung eines Unheils, das im Herzen der Insel und nicht irgendwo
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