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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes
Autoren: Christoph Ransmayr
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durch das Yan-Gebirge. Wie eine vom Wind verwehte und dann an Gipfeln und Graten hängengebliebene Girlande wand sich die Mauer hier mit ihren Zinnen, Wach- und Alarmfeuertürmen durch unbewohntes Bergland, fiel über schroffe Höhenzüge steil in menschenleere Täler ab, aus denen sie ebenso steil wieder aufstieg, und änderte mit dem Verlauf eines Höhenrückens ihre Richtung, um nach einem abermaligen Wechsel wieder auf die Ideallinie verschollener Baumeister und Generäle einzuschwenken.
    Hätte der frühe Schnee nicht alles Dunkle, Mauerwerk, Ruinen, Felsen, noch schärfer hervortreten lassen, wäre mir die Gestalt auf diese Entfernung wohl kaum aufgefallen. Aber nun glaubte ich sogar zu sehen, daß, wer immer dort stand, ein Fernglas vor die Augen hob und in meine Richtung sah.
    Ich war auf meiner Wanderung über einen Mauerabschnitt, der wegen seiner Steilheit und seiner verfallenen Passagen wenig begangen wurde, seit nahezu zwei Stunden keinem Menschen begegnet und nun überrascht, auf jemanden zu treffen, der offensichtlich aus entgegengesetzter Richtung auf mich zukam; die dünne Schneedecke vor mir trug keine Spuren.
    Die Gestalt rührte sich nicht von der Stelle, während ich in einem schattigen Abstieg und Wiederaufstieg im Naßschnee eine Senke durchquerte, und so befürchtete ich schon, am Wachturm einem Soldaten oder einem Aufseher zu begegnen, der mir die Fortsetzung meiner Wanderung wegen der Brüchigkeit des Mauerwerks verbieten würde. Das größte Bauwerk der Menschheit hatte den Bewohnern angrenzender Landstriche immer wieder als Steinbruch gedient, noch Mao Tse-tungs Volksbefreiungsarmee hatte Mauersteine für den Bau von Brücken und Nachschubwegen verwendet, aber seit der Wall unter Denkmalschutz stand, versahen Bewacher, auch freiwillige Kontrollposten, manchmal noch in den entlegensten Gegenden Dienst.
    Ich hatte in Peking von Wettbewerben unter
Mauerläufern
gehört, bei denen zum Sieger erklärt wurde, wer die längste Strecke ohne Unterbrechung auf verbotenen, gesperrten Abschnitten zurücklegen konnte. Den etwa fünfhundert Kilometern gut erhaltener oder gut restaurierter, jederzeit zugänglicher Mauerabschnitte lagen Abertausende Kilometer eines oft überwucherten, in der Wildnis kaum noch als Architektur erkennbaren Trümmerwalls gegenüber.
    Als ich aber nach meinem mühsamen Aufstieg über eine Passage, die steil wie eine an die Wand gelehnte Leiter war, die Gestalt endlich erreichte, traf ich weder auf einen Soldaten noch einen Mauerläufer, sondern auf einen weißhaarigen Europäer, der trotz der Kälte keine Mütze trug und nach einer freundlichen Begrüßung den Schnee zu verfluchen begann.
    Mr. Fox aus der walisischen Grafschaft Swansea war ein
Birdwatcher
, ein Vogelfreund, und seit dem frühen Morgen auf der Mauerkrone unterwegs, um Singvögel zu beobachten, zu fotografieren und ihre Gesänge, Warnrufe oder Haßlaute mit einem winzigen Digitalrekorder aufzuzeichnen. Es war der einundvierzigste Mauerabschnitt, den er auf diese Weise entlangwanderte.
    Aber was, sagte Mr. Fox, sollte bei diesem Schnee schon groß zu sehen und zu hören sein? Er konnte sie ja verstehen: Die meisten Singvögel haßten den Schnee ebenso wie er und saßen jetzt in ihren Verstecken aufgeplustert still, um Kräfte zu sparen an einem Tag, an dem die Nahrung unerreichbar in einem kalten Weiß begraben lag. Eine Asiatische Kurzzehenlerche,
Calandrella cheleensis
, eine Rotkehldrossel und ein Paradiesfliegenschnäpper … das sei an diesem Morgen alles gewesen.
    Mr. Fox hatte in Hongkong bis zur Rückgabe der Kronkolonie an die Volksrepublik China als Verfasser und Übersetzer von Gebrauchsanleitungen gelebt und war nach seiner Pensionierung mit seiner Frau, einer Archäologin, die sich immer wieder mit der Großen Mauer befaßt hatte, in ihre Geburtsstadt gezogen, nach Shanghai. Von dort war er vor drei Tagen mit dem Nachtzug in Peking angekommen und hatte sich vom Busbahnhof Dong Zhi Men ohne Aufenthalt zu diesem Mauerabschnitt, dem letzten, der ihm in der Provinz Hebei noch fehlte, auf den Weg gemacht. Und dann begann es heute zu schneien. Schnee im Oktober!
    Dabei wollte Fox in diesen Tagen seine Stimmensammlung weiter vervollständigen, ein Album, das idealerweise sämtliche Singvogelarten enthalten sollte, die im Schatten der Mauer lebten: einen ungeheuren Vogelschwarm, der den
Großen Drachen
umflatterte. In China werde die Mauer ja gelegentlich mit einem Drachen verglichen, der seine Zunge ins
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