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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes
Autoren: Christoph Ransmayr
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begleiten, dann aber weder bei der Einsargung noch bei der Bestattung helfen, sondern uns nur Anweisungen geben.
    Einen Sarg aus Eukalyptusbrettern auf das Dach des Jeeps gebunden, fuhren wir zu viert weiter. Der Bestatter mahnte uns vergeblich, doch wenigstens ein Ave-Maria zu beten. Jetzt erzählte keiner mehr.
    Als wir das Ziel erreichten, erwartete uns Herzfelds Frau an einem weiß gestrichenen Gartentor: das Mädchen vom Fallreep, das Mädchen aus Deutschland. Sie war sehr blaß. Leon sei in der Nacht aufgestanden, um ein Glas Wasser zu trinken, und lange, zu lange, nicht wiedergekommen. Sie ging ihn suchen und fand ihn an den Kachelofen gelehnt sitzen. Er atmete noch, kaum hörbar, und hielt die Augen geschlossen und gab keine Antwort mehr, als sie sich zu ihm setzte und ihm helfen wollte, sich doch zu erheben, ihm zurückhelfen wollte ins Bett, ins Leben. Aber allein konnte sie ihn, wollte sie ihn nicht lassen, keine Sekunde allein, auch nicht, um Hilfe zu rufen. Und so habe sie ihn gehalten und manchmal gewiegt und ihm zugeflüstert und ihn gebeten, zu bleiben, bei ihr zu bleiben, nur ein bißchen noch bei ihr zu bleiben, bis er diesen tiefen Seufzer tat, nach dem es totenstill wurde. 
    Draußen brannte die Sonne, aber im Inneren des Hauses flackerte eine Kerze bei geschlossenen Vorhängen in der Zugluft. Senhor Herzfeld lehnte am Kachelofen seines Hauses wie an den Winterabenden, an denen es auch in Minas kalt werden konnte. Über seinem Gesicht lag ein weißes Taschentuch, in das Initialen gestickt waren, die weder zu dem Namen seiner Frau noch seinem eigenen Namen paßten. Das Tuch glitt zu Boden, als sein Schwiegersohn mich um Hilfe bat und wir ihn auf ein mit Kissen überhäuftes Sofa betten wollten. Sein Mund war leicht geöffnet, auf dem Schmelz eines Schneidezahns glomm der Widerschein der Kerze, ein winziger Stern.
    Die Totenstarre ließ nicht zu, daß wir ihn in den mitgebrachten Anzug kleideten, und so versuchten wir, Senhor Herzfeld in der Haltung eines Schläfers in seinem blauen Morgenmantel in den Sarg zu legen. Wie schwer ein Mensch wog, der sich seinen Trägern mit keiner Bewegung und keinem Atemzug leichter machen konnte.
    Der Schreiner wies uns an, dirigierte uns mit seiner verbundenen Hand und sprach gleichzeitig hastig auf den Toten ein, bat ihn flüsternd um Verzeihung für die Störung seiner eben angebrochenen ewigen Ruhe, bat ihn, er möge doch hier noch ein wenig und dort noch ein bißchen nachgeben, bat ihn um Gottes Barmherzigkeit willen, es uns, seinen Helfern, seinen ergebenen Dienern, nicht so schwerzumachen, ermahnte uns aber auch, unsere Hemmungen endlich aufzugeben und den Toten mit aller Kraft in die Enge des Sarges zu drücken, die Zeit der Schmerzen sei für Senhor Herzfeld doch für immer vorüber.
    Dann rief er nach den beiden Gartenarbeitern, die das Grab unter der Araukarie ausgehoben hatten. Die beiden betraten das Trauerhaus mit nacktem, schweißnassem Oberkörper, bekreuzigten sich und flüsterten ein Gebet. Als wir dann gemeinsam mit ihnen den Sarg aus der Dämmerung des Hauses in das grelle Licht des Gartens hinaustrugen, wartete dort bereits eine kleine Trauergemeinde, zehn, zwölf Menschen in hellen, leichten Sommerkleidern, einige mit verweinten Gesichtern. Ein Nachbar hatte seinen Pick-up an den Grubenrand gefahren und die Türen weit geöffnet. Als wir den Sarg an Hanfstricken in die rote Erde hinabließen, klang aus den in diese Türen eingebauten Lautsprechern
Näher mein Gott zu dir
.
    Wenn jeder der Araukariensamen, die in dieser Stunde auf die Trauergemeinde, auf das Grab, auf den Blumengarten, das Dach des Sommerhauses und den Sarg herabregneten, die Möglichkeit eines tausendjährigen Baumlebens enthielt, dann fiel – während Herzfelds Tochter ein Goethe-Gedicht so leise vortrug, daß ich in den Windstößen kaum ein Wort verstand, und seine Frau ein letztes Mal zu ihrem geliebten Leon über das offene Grab hinweg ins Leere sprach – mit diesen Samen eine Art Ewigkeit aus den Zweigen auf uns herab.

Sternenpflücker
    Ich sah einen gestürzten Kellner auf dem Parkplatz eines Straßencafés in der kalifornischen Küstenstadt San Diego. Der Mann hatte ein mit Getränken beladenes Tablett eben noch scheinbar mühelos über seiner Schulter balanciert und war dann über ein Kabel gestolpert, das eine Autobatterie mit einem Teleskop verband. Nun lag er in den Scherben von Gläsern, Flaschen und Tassen, die er jenen Gästen hatte servieren wollen, die
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