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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes
Autoren: Christoph Ransmayr
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ließen die letzten Gäste aus dem Café hinausstürzen ins Freie.
    Und dann war da plötzlich nur noch das wolkenlose Firmament und ein dunkler Platz voll Menschen, die schweigend zu den Sternen aufsahen, zwischen denen der hellste Komet des Jahrtausends an einem verfinsterten Mond vorüberzog – und war da trotzdem und immer noch hinter einer erleuchteten Glasfront diese lange leere Theke, von der ein Kellner sein schwer beladenes Tablett in die Nacht hinaustrug, dann zwischen Autos und Teleskopen dahinhuschte und dabei seinen Blick immer wieder gegen den Himmel richtete, bis plötzlich dieses böse Klirren zu hören war und der Gestürzte in einer Scherbensaat lag.
    Aber während so weit, weit draußen im Raum das Himmelsschauspiel ungerührt seinen Lauf nahm, der Erdschatten, unser eisiger Schatten, über die Mondwüsten glitt und Hale-Bopp mit einer Geschwindigkeit von fast einhundertsechzigtausend Stundenkilometern unseren Planeten wieder hinter sich ließ, begann auf dem ölfleckigen nächtlichen Parkplatz ein Gegenschauspiel, das von einer anderen Helligkeit war.
    Denn obwohl es lange, sehr lange dauern würde bis zu einer nächsten vergleichbar schönen Finsternis und obwohl der fliehende Komet nach seinem allmählichen Verblassen und Verschwinden erst nach mehr als zweitausendfünfhundert Jahren wiederkehren, aber niemals, niemals wieder in der Geschichte dieses Universums in so enger Gemeinschaft mit einem verfinsterten Mond zu sehen sein würde, wandten sich …, nein, nicht alle Zeugen und Zuschauer, aber doch viele, viel mehr als zu erwarten waren, von dieser Einzigartigkeit, einem unwiederholbaren kosmischen Ereignis, ab und dem gestürzten Kellner zu, kehrten dem Himmel den Rücken, beugten sich zu dem stummen, beschämten Mann hinab, boten ihm ihre ausgestreckten Arme und sanken, als er nicht aufstehen, sondern bloß auf allen vieren die Scherben einsammeln wollte, neben ihm auf die Knie und lasen gemeinsam mit ihm die selbst im verfinsterten Mondschein noch blinkenden Scherben vom schwarzen Asphalt, als pflückten sie Sterne.

Die Himmelsbrücke
    Ich sah eine Kette schwarzer, felsiger Hügel, an die Sanddünen brandeten. Der baumlose Höhenzug war im Verlauf einer zweistündigen Geländewagenfahrt durch die nördlichen Ausläufer der marokkanischen Sahara aus einer Sand- und Geröllwüste emporgewachsen, bis auch die mächtigen Steinkegel erkennbar wurden, die viele der Hügelkuppen krönten. Auf einem flachen Felsrücken erhob sich eine ganze Reihe solcher Kegel und gab ihm das Aussehen eines ungeheuren, mit Reißzähnen bewehrten Kiefers.
    Der schwarze Geröllstrom, der von diesen Zähnen zu jener windgeschützten Mulde herabfloß, in der nun das Fahrzeug entladen und ein Zelt aufgeschlagen werden sollte, war ohne jeden Bewuchs. Selbst Dornsträucher, Disteln und Flechten fehlten. Der in eine indigoblaue Daraa, die Tunika der Nomaden, gehüllte Fahrer des Wagens wand sich ein schwarzes Tuch um Kopf und Gesicht, bis nur noch ein schmaler Sehschlitz freiblieb, bedeutete mir, ihm zu folgen, und machte sich an den Aufstieg.
    Obwohl er nur Ledersandalen trug und ein böiger Wind seine bodenlange Daraa immer wieder in ein Segel verwandelte, fand er mühelos, manchmal fast tänzelnd selbst dann noch Halt, wenn ein Stein unter seinen Sandalen wegkippte oder ein Windstoß ihn für einen Augenblick aus dem Gleichgewicht brachte. Dabei blieb ihm trotz der Steilheit des Aufstiegs genug Atem, um seine während der Fahrt begonnenen Erzählungen fortzusetzen.
    Aus dem Westen trieb eine fahlgelbe Sandwolke auf uns zu, die sich höher und höher in das Blau des Himmels fraß. Wir mußten uns beeilen, wollten wir nicht Gefahr laufen, auf dem Rückweg zum Lager in wirbelnden Schleiern aus Sand die Orientierung zu verlieren.
    Dreitausend Jahre und älter, manchmal tausend Jahre älter, sagte der Fahrer, seien diese Steinkegel, Grabhügel, errichtet von einem Wüstenvolk, dessen Name die Zeiten nicht überdauert hatte. Geblieben seien allein diese Gräber. Manche Tote, das hätten Ausgräber entdeckt, hatte man wohl über Hunderte Kilometer durch die Wüste getragen, über Hunderte Kilometer durch ein glühendes, menschenleeres Land, nur um sie in dieser Verlassenheit zu bestatten.
    Der Grund dafür, sagte der Fahrer, sei eine Erzählung gewesen, die durch die Jahrtausende überliefert worden war und von einem Stern, einem Meteoriten berichtete, der vom Nachthimmel fiel und in jenem Becken zersprang, das nun von
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