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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes
Autoren: Christoph Ransmayr
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die weiter und weiter und immer noch gesungen wurden, wenn selbst die stärksten Mauern und vermeintlich unbezwingbare Wehrtürme bereits zu Schutt zerfallen waren.
    Vielleicht konnte das Reich eines so unmusikalischen Menschen wie Mao Tse-tung schon allein deswegen keinen Bestand haben, weil es das erste und einzige aller bisherigen chinesischen Reiche war, in dem Singvögel nicht bloß aus blöder Freßgier wie in manchen Ländern Europas, sondern ausnahmslos alle Vögel als Getreidefresser und Ernteschädlinge in sämtlichen Provinzen dieser sogenannten Volksrepublik zu Millionen und Abermillionen getötet worden waren. Es habe hierzulande einen Frühling gegeben, in dem der Himmel über Peking tatsächlich
vogelfrei
gewesen war. Vogelfrei! Was für eine Freiheit.
    Während Mr. Fox von Dynastien und Reichen erzählte, die keine noch so langen, noch so mächtigen Wälle vor dem Lauf der Zeit hatten schützen können, von Vögeln und Menschen erzählte, war es still geblieben, schneestill auf der Mauerkrone. Aber als er mir den Flachmann zu einem Abschiedsschluck reichte, war in einer Baumkrone unter uns, aus der die Sonne jetzt Schneepolster abfallen ließ, wieder die Rotkehldrossel zu hören, deren Stimme er bereits am Morgen aufgezeichnet hatte.
Herbstgesang
, wie Fox sagte: leiser und weniger raumfordernd, aber kunstvoller, lustvoller als die Gesänge des Frühjahrs, weil zumindest von einigen mit der Schneeschmelze verbundenen Zwecken, Liebeswerbung etwa und Fortpflanzung, befreit. Es war ja, ein bißchen zumindest, wie bei den Menschen, wie bei ihm selber: Ein Herbstvogel mußte niemandem mehr groß imponieren. Der sang, wenn er denn sang, mehr für sich als für oder gegen irgend jemand anderen.
    Der Drosselgesang klang uns noch eine Weile nach, als wir uns auf dieser unvorstellbar langen Mauer wieder voneinander entfernten und jeder seinem Ziel entgegenging, er nach Simatai, ich nach Jinshanling, jeder in der Spur des anderen.

Herzfeld
    Ich sah ein offenes Grab im Schatten einer turmhohen Araukarie. Der Baum überragte alle anderen Bäume eines von Eukalyptuswäldern umrauschten Bergdorfes im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais bei weitem. Wenn ein Windstoß in seine Krone fuhr und dort ein kaum hörbares, an den Atem eines Schläfers erinnerndes Geräusch erzeugte, lösten sich immer wieder Schauer goldbrauner, tropfenähnlicher Samen aus unzähligen, an schuppigen Zweigen haftenden Zapfen und regneten auf eine kleine Trauergemeinde herab, regneten auf das Schindeldach eines Fachwerkhauses, das ebensogut im Süden Deutschlands hätte stehen können, auf Blumenbeete, Korbstühle, auf einen dicht am Grab geparkten Pick-up, dessen Wagentüren weit offenstanden, und klopften so immer wieder auch an den zugenagelten, bereits in die Erde gesenkten Holzsarg, in dem Senhor Herzfeld in einem blauen Morgenmantel lag. Er war am frühen Morgen dieses Tages in den Armen seiner Frau gestorben und durfte nun im Garten seines Hauses beerdigt werden. Der Bürgermeister, er war gerade auf Amtswegen in Belo Horizonte unterwegs, hatte seine Erlaubnis dazu am Telefon und der Hitze wegen ohne weitere Formalitäten erteilt.
    Ich hatte Herzfeld vor drei Tagen auf einem Gartenfest in São Paulo an einer weiß gedeckten, blumengeschmückten Tafel unter weißen Sonnenschirmen kennengelernt. Er hatte mir einen kleinen Teller voll gekochter, geschälter Araukariensamen, die wie Pinienkerne schmeckten, gereicht und gesagt, diese Samen enthielten nicht nur die Kraft und den Lebenswillen eines der evolutionsgeschichtlich ältesten Bäume der Erde, sondern auch sein himmelstürmendes Wesen: Vierzig Meter hoch und höher könne sich eine brasilianische Araukarie nach dem Himmel strecken, nach der Sonne, den Sternen, und in dieser herrlichen Pose Hunderte, ja tausend Jahre alt werden. Er habe sein Sommerhaus in den Bergen von Minas in den Schatten einer solchen Araukarie gebaut. 
    Senhor Herzfeld, Sohn eines Nähnadelfabrikanten aus Brandenburg, war als junger Mann mit seiner Schwester aus Deutschland über England, Frankreich und dann auf einem überfüllten Auswandererschiff zu einer Zeit nach Brasilien gekommen, in der seine Heimat und mit ihr so viele Länder Europas für tausend Jahre ans Hakenkreuz genagelt werden sollten. Aber selbst als diese tausend Jahre zu wenigen, endlosen Schreckensjahren geworden und in einem Weltkrieg verraucht waren, wollten Senhor Herzfeld und seine Schwester nicht mehr in ein Land zurück, das ihre
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