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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes
Autoren: Christoph Ransmayr
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in meiner Angst vor der Wut des Elefantenbullen das zerknitterte Tuch mit zwei Handgriffen verschwinden und wieder erscheinen ließ, war es, als ob die Zauberei nicht nur die Aufmerksamkeit meiner Begleiter, sondern auch die des Bullen auf sich gezogen hätte: Der Liebestolle hob seinen Schädel, und ich war überzeugt, daß er in unsere Richtung sah, daß er unsere Augen, unsere regen- und schweißnassen Gesichter im Dickicht glänzen sah.
    Und jetzt? Stampfte er jetzt los? Er hörte auf zu schwanken, stand dann aber bloß still im stillen See und wandte sich, wenn auch immer noch erregt, wieder dem Wasser und dem darin zitternden Spiegelbild der Schilfreihen zu.

Mädchen im Wintergewitter
    Ich sah ein sechsjähriges, nein: siebenjähriges Mädchen, vor drei Tagen war Geburtstag gefeiert worden, auf einem verschneiten Feld unweit der Auen des Grenzflusses Inn, der inmitten einer winterlichen Hügellandschaft Österreich und Deutschland über sechzig dunkle Stromkilometer voneinander trennte. Die lähmende Kälte der vergangenen Tage, in denen die Luft erfüllt gewesen war vom Flirren der Eisnadeln, hatte gestern, am Tag der Heiligen Drei Könige, endlich nachgelassen. Aber mit dem Frost war auch alle Weite verschwunden. Verschwunden die gleißende Alpenkette im Süden und die auf den Hügeln thronenden Höfe, verschwunden der von Wolkenflotten durchsegelte, tiefblaue Winterhimmel. Selbst die Ränder und Umrisse der nächsten Nähe waren im Nebel versunken, und aus der weißen Gestaltlosigkeit lösten sich manchmal unergiebige Schneeschauer.
    Das Mädchen suchte die Hand seines um drei Jahre älteren Bruders, mit dem gemeinsam sie an diesem ersten Morgen nach den Weihnachtsferien auf dem langen Fußweg vom elterlichen Hof zur Dorfschule war. Aber der Bruder stieß ihre Hand zurück. Er wollte heute für sich bleiben, wollte nicht reden und auch keine Fragen hören. Es war die Erinnerung an den vergangenen Abend, die ihn die Hand seiner Schwester zurückstoßen ließ. Und es war die Erinnerung an diesen Abend, derentwegen sie ihre Hand nach der seinen ausstreckte.
    Der Vater war gestern abend Stunde um Stunde nicht aus einem entlegenen Gasthaus zurückgekehrt und hätte schließlich wieder einmal von seiner ältesten Tochter, seinem Liebling, vom Stammtisch geholt werden sollen, während die Mutter draußen unter dem noch sternklaren Winterhimmel, in einem Kleinwagen mit laufendem Motor und Eisblumen am Heckfenster, wartete. Aber gestern wollte das Mädchen das Gelächter der Kartenspieler am Stammtisch, ihre Sticheleien und den Spott über einen Verlierer und Pantoffelhelden, der zur Belohnung für seine schlechten Karten nun auch noch einer Rotznase folgen durfte, nicht ertragen. Das Mädchen hatte auf der Fahrt geweint und war am Ziel weder durch Drohungen noch durch Versprechungen zu bewegen gewesen, das gefürchtete Haus, das wie ein erleuchtetes Schiff inmitten kahler nächtlicher Felder lag, zu betreten. Und so war die Mutter stumm vor Wut nach Hause zurückgefahren, hatte das Mädchen dort aus dem Wagen gestoßen und den älteren Bruder von seinem Spiel mit den beiden jüngeren Geschwistern weggeholt. Und der mußte dann tun und ertragen, was weder die Mutter noch das Mädchen tun und ertragen wollten, mußte sich durch den Lärm und das Gelächter in der Wirtsstube kämpfen und den Vater am Ärmel und noch einmal am Ärmel ziehen und ihn wieder und wieder bitten mitzukommen, bis der sich endlich erhob, dann aber die in Wollfäustlingen steckende Hand seines Sohnes, der ihn hinausziehen wollte in die Kälte, ins Freie, zurückstieß. Unter dem Gelächter seiner Mitspieler hatte er dann mit dem Fuß gegen die mit Plakaten der Feuerwehr, des Sparvereines und der Fleckviehzüchter beklebte Tür des Schankraumes getreten, bevor er sie öffnete und seinem Sohn vorantrampelte, hinaus in die Nacht.
    Nein, der Vater hatte seinen Sohn nicht geschlagen, er schlug seine Kinder nicht, aber er hatte auf der Heimfahrt kein Wort gesprochen, und auch die Mutter blieb während der ganzen Fahrt stumm. Erst in der Nacht war das Mädchen von den wütenden Stimmen der Eltern aufgewacht, von den Vorwürfen der Mutter, von den Rechtfertigungen, schließlich Schimpfworten des Vaters, der, wie ihm irgendwann zugeschrien wurde, froh sein mußte, froh!, daß er, der uneheliche, unselige, versoffene Sohn einer Magd, das Glück gehabt hatte, von einer Hoferbin zum Mann genommen worden zu sein.
    Glück? Ein Hof? Ein Hof hätte diese
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