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Unter dem Zwillingsstern

Titel: Unter dem Zwillingsstern
Autoren: Tanja Kinkel
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1. KAPITEL

    Carla haßte das Musselinkleid, das s i e an diesem Tag tragen mußte. Sie wuchs schnell, und es war ihr zu eng. Außerdem m ach t e die Nove m berkälte m ittlerweile auch nicht m ehr vor dem Haus des Leder f abrikanten Heinrich F e hr halt; der Preis für Kohlen war in diesem vierten Kriegsjahr so gestiegen, daß ihr Vater entschieden hatte, nur noch die wichtigsten R äu m e zu heizen. Das Zim m er, in dem ihre Gouvernante sie unterrichtete, geh ö rte nicht dazu. Es war kalt, und sie f ro r ; also sprang s ie m ehr als be r eitwillig au f , als i h re Stief m utter im Türrahmen erschien und die versprochene Überraschung ankündigte.
    Man hatte ihr gesagt, daß sie sich bei Besuch m ehr zurückhalten sollte. Aber Besuch kam sehr selten, und sie wußte längst, waru m . Außerdem rannte sie gerne, und es vertrieb die Kälte etwas. Also lief sie, so schnell sie konnte, bis zu der Treppe, die hinunter zum Salon führte. Dort hielt sie inne. Je m and spielte Klavier, und z w ar so außergewöhnlich schlecht, daß es schon wieder ko m i sch war. Carla spielte selbst nur leidlich und hoff t e, ihren Vater m öglichst bald überzeugen zu können, auf den Klavierunterricht für sie zu verzichten. Aber verglichen mit j e nem erbarmu n gslosen K limperer war sie eine hoffnungsvolle Virtuosin.
    Das Mädchen kniete sich neben dem Treppengeländ e r nieder und spähte nach unten. Ihr Vater und e i ner seiner Freunde, Rainer König, den sie vom Sehen her bereits kan n te, standen um das Klavier herum und lachten. Auf d e m Sche m el saß ein leicht übergewichtiger Junge in ih r em Alter, der sich m it ein e r Hand durch das braune H aar fuhr und m it der anderen schwungvoll sein Massaker an der Tastatur beendete.
    »Finito«, rief er, sprang auf und verbeugte sich. »Verstehen Sie jet z t, He r r F ehr, warum ich m eine P iani s tenlau f bahn been d et ha be ? Papa m eint, sie sollten m i ch an die Front schicken. Aber ich glaube, hier wäre ich nützlich e r, besonders für Ihr Geschäft, Herr F ehr. Sie könnten lederne Ohrenschützer her s tellen. Und warten Sie nur, bis ich als Za u berer auf Tournee ge h e. Dann sorge ich dafür, daß auf jedem Taschentuch die Worte KAU F T BEI F EHR erscheinen. Oder soll ich lieber … «
    Carla kannte kaum andere Kinder, aus dem gleichen Grund, aus dem Besuch in der Villa Fehr nun schon seit Jahren im m er seltener wurde. Aber sie erkannte ein Schauspiel, wenn sie eines sah; sie war bereits ein paar m al ins Theater m itgenom m en worden, wenn ihr Vater wieder ein m al seine Gleichgü l tigkeit gegenüber der öffentlichen Meinung demonstrieren wollte, u n d es hatte sie faszi n iert, selb s t wenn sie nicht alles verstand. Sie w a r auch jetzt fasziniert, aber gleic h zeitig wallte Res s enti m ent in ihr auf, be s onders, als ihr Vater den Kopf schüttelte und lachte. Ihr selbst war es noch nicht gelungen, ihren Vater so zum L a chen zu bringen, obwohl er sich seit seiner Hochzeit m it Anni verändert hatte. Sie spürte wieder die Kälte in ihren Fingern, die sich um das Treppengeländer kra m pften, als ihr Vater im m er noch lächelnd sagte:
    »Rainer, der Junge gefällt m i r. Aber hör m al, S c hlawiner, w enn du m it m einer Tochter unt e rric h t e t wir s t, dann schau zu, daß du sie nicht vom Lernen ablenkst.«
    »Kau m «, sagte der Junge, und sie konnte erkennen, daß er eine Gri m asse schnitt. »Kin d er sind lan g weilig.«
    Sie verabscheute ihn. Hinter sich hörte sie Schritte und roch Annis Parfü m ; sie stand auf, drehte sich zu ihrer S tiefmutter und ihrer Lehrerin um und legte bittend den Finger auf den Mund. Fräulein Brod runzelte die Stirn; Anni grins t e verschwörerisch und nickte. Das Mädchen, das Heinrich Fehr vor einem Monat geheiratet hatte, war selbst erst sechzehn Jahre alt, jüng e r als seine ältere Tochter. Carla warf ihr eine Kußhand zu und schlich so leise wie m öglich zurück in ihr Zim m er.
    Käthe Brod unterdrückte ein Seufzen. Sie war nicht glücklich über das, was ihr Anni Fehr vorhin eröffnet hatte, als Carla davongerannt war, ganz abgesehen davon, daß die kleine, etwas üppige Gestalt neben ihr sie generell irritierte. Sie ist selbst noch ein Schul m ädchen, dachte Käthe und war sich dabei bewußt, m it siebenundzwanzig bereits eine alte Jungfer zu sein. S ie schaute von der die Treppe hinunterhüpfenden Anni zu der m ächtigen, breiten Gestalt ihres Arbeitgebers und spürte Ekel wie bittere Galle in ihrem Mund,
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