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Unter dem Zwillingsstern

Titel: Unter dem Zwillingsstern
Autoren: Tanja Kinkel
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Zugang zu der Bibliothek ihres Vaters besaß; sie konnte die Ro m an e , die sie schon kannte, haarklein nacherzählen, und es m achte ihnen Spaß, besonders dra m atische Szenen immer wieder n achzuspielen. Außerdem entdeckten sie eine ge m eins a m e schuldbewußte, und darum um so köstlic h ere, Vorliebe für Karl May, den seine Mutter zu Schundliteratur e r klärt hatte, ein Urteil, das auch Fräulein Brod aussprach. Aber sie konnten sich nicht darauf einigen, wer W i nnetou und wer Old Shatterhand spielen sollte, und Carla weigerte sich, Nschotschi zu sein. Statt dessen war sie Hadschi Halef O m ar, selbst in d e n Geschichten, die im W ilden W esten spielten, was einige phantasievolle U m änderungen nötig m achte.
    Als er schließlich doch wieder eine Schule besuchen m ußte, hätten sich Ri v alit ä t wie Freu n dscha f t vi e lleicht trotzdem verloren, wenn es nicht z u r gr o ßen Kat a strophe gekom m en wäre.
     
    Es begann m it ein e m Besuch von Carlas älterer Schwester Marianne in Bogenhausen, einem an sich schon sehr ungewöhnlichen Ereignis. Marianne war die Tochter von Heinrich Fehr und seiner ersten Frau und sechzehn Jahre älter als Carla. Ihre Mutter, Gerda Bach m aier, entstam m te einer d e r b e deutend s ten Münchner F a m ilien, die, anders als die Fehrs, nicht nur reich, sondern schon seit E wigkeiten in Mü n chen ans ä s s ig war. Als Gerda Ba c h m aier und Heinrich Fehr heirateten, nannte m an das i m Simplizissimus »die Ehe von Margarine und Leder«, was sich auf die jeweilige Herkunft des Fa m ilienver m ögens bezog, aber die H o chzeit war der unbestrittene Höhepunkt der Saison. Die Ehe galt der Gesellschaft als Zeichen, daß der junge Fehr seine s t u denti s chen Eskapaden endgültig beendet und ein neues Leben angefangen habe.
    In der Tat w andelte sich Heinrich Fehr auf durchaus voraussagbare Art und W e ise vom jugendlichen Rebell zur Stütze der Münchner Gesellsc h aft. Er war seiner Frau nicht treu, ab e r seine Affä r en verliefen im üblichen Rah m en: diskret und m it einem netten Abschiedsgeschenk. Das einzige, was den har m onischen E indruck der E he etwas trübte, war das Fehlen eines Sohnes. W ie sein Vater, der zeit seines Lebens nicht das Etikett des neure i chen Aufsteigers hatte l o swerden können, war Heinrich F ehr besessen von der Vorstellung, eine Dynastie gründen zu m üssen, und Marianne als einziges Resultat seiner Ehe enttäuschte ihn. Man nahm an, daß er wohl je m anden aus der Verwandtschaft adoptieren würde, einen von Gerdas Neffen vielleicht oder einen Sohn seiner Cousinen. Niemand ver m u t ete, was bald geschehen sollte.
    Er kehrte von einer Reise nach Italien ohne seine Gattin zurück. Statt des s en reiste er m it einer ausländischen Sängerin, bestellte, kaum in München eingetroffen, sei n e Anwälte zu sich und verlangte die Scheidung. Es war m ehr als ein Skandal, es war eine E rschütterung des Status quo, ein Verrat von innen. Gediegene Mitglieder der Gesellschaft heirateten ihre Mätressen nicht, und schon gar nicht verlan g t en s i e, i h re Ehe nicht nur scheiden, sondern auch kirchlich annullieren zu lassen, w i e es Heinr i ch Fehr tat. Was folgte, war ein sechsjähriger erbitterter K a m pf z w ischen Heinrich Fehr und der gesa m ten Familie Bach m a ier. Die so n st so san f te Gerda wei g erte s ich, sich einfach abschie b en zu las s en. Jedes m al, wenn die Anwälte i h res Gatten glaubten, eine Möglichkeit gefunden z u haben etwa eine Scheidung in Riga, zu der das Einve r ständnis beider Eheleute nicht nötig war -, sorgten Gerda Fehrs Anwälte dafür, daß diese Scheidung außerhalb Rigas keine Gültigkeit besaß. W as gar die kirchliche Annullierung anging, so erw i es diese sich als ganz und gar unmöglich. Der im Grunde seines Herzens kons e rvative Heinrich Fehr reagierte m it Kirchenaustritt und einer öffen t lichen De m o ntage der Muttergottesstatue aus dem Erker seines H a u s es, was ihm weite r e Karikaturen im Simplizissimus einbrachte, aber wenig gewann. Für die Bohe m i ens war er im m er no c h ein Reaktionär, und die Sy m pathien seines alten F r eundeskreises lagen ganz und gar bei seiner Frau.
    Sein sechsjähriger Kampf um d i e Auflösung seiner Ehe endete schließlich überraschend m it Ger d as Tod an Lungenentzündung, als er und seine Sängerin sich gerade auf der Suche nach einer weiteren rechtsgültigen Scheidung in A m erika befanden. Sie kehrten zurück, frisch verheiratet, wie
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