Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz
Autoren: Nina Blazon
Vom Netzwerk:
kann die Sache schnell ganz anders aussehen.«
    Und ob sie wollte oder nicht, sie musste ihm recht geben. Inzwischen fröstelte sie nicht nur vor Kälte und ihre Knie waren so schwach, dass sie sich in den Schnee setzte, während Loved das Pferd einfing. Das Winterlicht spielte auf dem weißen Fell und erinnerte Summer an diesen anderen Tag, weit in der Vergangenheit. Und noch etwas Vertrautes blitzte im Schnee auf, nur wenige Schritte von ihr entfernt. Der Glanz von Flügeln, die es in dieser Jahreszeit nicht geben durfte. Eine Königslibelle erhob sich vor Summer in die Luft und schwirrte in einer immer weiter werdenden Spirale nach oben. Summer blickte sich um, aber Anzej zeigte sich ihr nicht. Sie konnte sich nur vorstellen, dass er irgendwo im Schnee stand und sie beobachtete. Es gab ihr einen Stich, dass die zweite Wirklichkeit für immer Vergangenheit war. »Es waren die Flügel der Schneefalter«, sagte sie in die Leere. »Ihr Staub betäubt die Zorya und nimmt ihnen den Willen, er ist das Gift, das euch sogar töten kann.« Sie wurde sich bewusst, dass sie tatsächlich nicht mehr »uns« sagte, wenn sie von den Zorya sprach. Doch sie hoffte so sehr, dass ihr Gefühl sie nicht trog und Anzej ihre Worte gehört hatte. »Leb wohl«, flüsterte sie. Doch die Libelle war bereits fort. Und mit ihr das letzte haardünne Band, das sie mit den Zorya verbunden hatte.

    Der Schimmel spitzte die Ohren, als Loved ihn direkt neben Summer zum Stehen brachte. Summer zögerte, doch dann wagte sie es und strich behutsam über die samtige Nase. Wie zuvor schon Jola, wich auch dieses Tier nicht vor ihr zurück. Und es versuchte auch nicht, nach ihr zu schnappen. Stattdessen schnupperte es nur erwartungsvoll an ihrer Hand und wandte dann ohne weiteres Interesse den Kopf wieder von ihr weg. Ein seltsames Gefühl, dass es keine Wesen mehr gab, die sie einfach dafür fürchteten und hassten, was sie war.
    Loved trat zu ihr. Sein Daumen fuhr zart über ihr Kinn, dann hob er es an und betrachtete ihre Lippen.
    »Was ist?«
    »Nichts. Oder vielleicht doch? Du warst nur einen Tag und eine Nacht lang fort. Und jetzt bist du mir so fremd, als hätte ich dich ein Jahr lang nicht gesehen. Mit blauen Lippen kenne ich dich nicht.«
    Jetzt war es an Summer zu lächeln. »Dann wärm sie!«

menschenherz
    I n den Nächten des Dezembers und des Januars vergingen die Stunden unendlich langsam. Wie Bären im Winterschlaf verkrochen Summer und Loved sich in den unterirdischen Zimmern des Blumenhauses. Summer hatte sich an den endlosen Schnee gewöhnt und auch an die Angst, dass jemand sie hier finden könnte. Sogar das Frieren und die Tatsache, dass sie sich ohne Schuhe nicht in den Schnee wagen durfte, war zur Gewohnheit geworden. Doch eines vermisste sie: die Sorglosigkeit. Selbst in ihrem verwundeten Zustand als Zorya hatte sie sich kaum je so verletzlich gefühlt wie in diesen ersten Wochen als Mensch. Früher war Hunger nur die Illusion von echtem Hunger gewesen, und das Fieber nur ein Abglanz dessen, was sie jetzt erlebte, als die Wunde sich entzündete. Sie heilte nur langsam - so wie bei allen anderen Menschen. Zurück blieb eine Narbe, die bei jedem Wetterwechsel pochte.
    »Das vergeht mit den Jahren«, tröstete Loved sie. »Bald spürst du die Narbe gar nicht mehr.« Und er hüllte sie in seinen Mantel, an dem noch der Schnee von draußen hing. So harrten sie aus, eng aneinandergeschmiegt, tot für die Welt, Haut an Haut überwinternd. In diesen endlosen Nächten, in denen der Schneesturm über dem Fjord sein Lied heulte und die stilleren Wasser zu Eis
gefroren, kostete Summer jeden Kuss und jede Berührung aus, die sie in den unzähligen Jahren versäumt hatte. Doch wenn sie nach diesen zeitlosen Liebesnächten erwachte, spürte sie den Puls der Veränderung um so deutlicher.
    Zwar verlor sie nicht alles, was sie als Zorya gewusst hatte, aber schon nach kurzer Zeit bemerkte sie, dass ihre eigene Sprache mehr und mehr dem Maymarer Küstendialekt glich und dass sie das Nordländische plötzlich wie eine Fremdsprache mit einem weichen Akzent sprach. Die Sprache der Tierläufer verschwand von einem Tag auf den anderen aus ihrem Gedächtnis. Am traurigsten stimmte sie, dass sie die Sprache der Zorya nicht mehr kannte - kein einziges Wort fiel ihr mehr ein.
    Bei Loved war es anders. Das, was er in so vielen Jahren erlernt hatte, verlor er nicht. Aber Summer hörte ihm jetzt ganz deutlich an, dass das Nordländische seine Muttersprache war und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher