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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz
Autoren: Nina Blazon
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er sich die anderen Sprachen nur angeeignet hatte. Zunehmend nach Worten suchend, erzählten sie einander Geschichten.
    Voller Unruhe bemerkte Summer, dass die Zeit auch Loved berührte. Der Winter und die Sorge um sie ließen ihn älter erscheinen. Wenn er von einer seiner Erkundungstouren zurückkam, zeigten sich neben seinen Mundwinkeln feine Linien, die Summer vorher nie an ihm bemerkt hatte. Wir verändern uns beide , dachte sie erstaunt, wenn sie mit dem Zeigefinger diese neuen Weglinien der Zeit nachfuhr. Von Tag zu Tag. Irgendwann wird sein Haar grau werden und meines blass wie vergilbte Seide.
    Sie wusste nicht, ob es den anderen Menschen ebenso ging, aber sie kam nicht gut damit zurecht, der Zeit ängstlich bei der Arbeit zuzusehen.
    Einmal ertappte Loved sie mitten in der Nacht dabei, wie sie sich nackt im Schein der Taschenlampe in dem fleckigen Spiegel
betrachtete, sich drehte und über die Schulter schielte, um die Narbe genau zu studieren. Er kam zu ihr und küsste erst ihre Schulter und dann ihre bläulichen Lippen. »Mach dir keine Sorgen, es heilt gut«, murmelte er. »Und die Narbe wird verblassen.«
    »Vielleicht will ich das ja gar nicht«, erwiderte Summer nachdenklich. »Sie ist wie eine Art Siegel, findest du nicht? Ein Zeichen, dass ich wirklich ein Mensch geworden bin.«
    »Ja, und zwar mein Mensch«, antwortete Loved und lachte. »Komm wieder ins Bett, Frostfee. Du wirst noch früh genug erfahren, wie sich eine richtige Erkältung anfühlt.«
    Es war dieser Moment, in dem sie aufhörte, jeder verrinnenden Stunde und jedem Tag mit bangem Herzen nachzublicken. Stattdessen machte sie die Entdeckung, dass auch die Augenblicke eine Ewigkeit besitzen konnten:
    … wenn Loved nachts im Traum etwas murmelte und nach ihr griff, als würde er gerade davon träumen, sie zu verlieren. Und die wohlige Schwere seines Arms auf ihrer Taille, während er beruhigt weiterschlief.
    … das Schweigen, während sie gemeinsam aufs Meer hinausblickten, umweht vom Duft der blauen Winterblumen.
    … der warme Atemzug, der über ihre Haut streifte, während er ihren Mundwinkel küsste.
    … die vielen Momente, in denen sie sich liebten und es nur noch Haut und Leidenschaft und das Glühen ihrer Küsse gab.

    Im Februar verblühten die Winterbäume. Der Wind nahm die verwelkten Blüten mit hinaus aufs Meer. Die Zweige und Äste blieben kahl zurück, keine einzige Winterfrucht wuchs heran.
Vielleicht würde es Jahre dauern, bis es wieder genug Schneefalter gab, damit die Bäume wieder Früchte tragen konnten.
    Und an dem Tag im März, an dem der Eisgürtel um die Halbinsel brach und ein Bote mit einer Nachricht von Moira sie nach langer Suche fand, ließen Summer und Loved auch das Blumenhaus und diesen Teil ihrer Vergangenheit endgültig hinter sich zurück und brachen zum Hafen auf.
    Moira hatte ihr Versprechen gehalten. Als sie nach einer anstrengenden Reise die Anhöhe über dem alten Hafen erreichten, sahen sie schon von Weitem den Rauch eines Lagers. Und als sie endlich den Steilweg durch den verschneiten Wald bewältigt hatten, erwartete sie im alten Hafen dasselbe Transportboot, das Summer vor einem halben Jahr ins Nordland gebracht hatte. Auf dem muschelbewachsenen Pier standen bereits die Kisten, die noch verladen werden mussten. Ein Mann wuchtete gerade einige Gepäckstücke an Bord. »Farrin!«, rief Summer und rannte zu ihm. Er sah hager aus, sein Gesicht erschien noch kantiger. Doch als er sich aufrichtete und Summer entdeckte, war er wieder der lachende, bärenhafte Mann, den sie an Bord der Nymphea kennengelernt hatte. Im nächsten Moment umarmte er sie schon. »Moira dachte schon, du schaffst es nicht rechtzeitig zum Hafen!«
    »Das würde ihr wohl so passen«, erwiderte Summer mit gespielter Empörung. »Ich würde doch alles dafür tun, dein kaltes Nordland zu verlassen.«
    Er grinste und ließ sie los. »Und du?«, fragte sie. »Willst du für immer hier festfrieren?«
    Farrin zuckte mit den Schultern. »Na ja. Es schadet ja zumindest nicht, sich die andere Seite des Meeres genauer anzusehen. Obwohl euer sentimentales Südländergejammer mit Geigen und Flöten mich sicher taub machen wird.«

    In diesem Moment betrat Moira den Pier. »Südosten«, sagte sie würdevoll. »Meine Stadt liegt weit im Südosten.«
    Auch sie hatte sich verändert. Und das lag nicht nur daran, dass sie in Summers Ohren das Nordländische nun mit einem deutlichen Akzent sprach. Es war offensichtlich, dass anstrengende
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