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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz
Autoren: Nina Blazon
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Schmuck weiße Leinwände waren. Beim Anblick der vielen offenen Münder musste Summer lächeln. Es war noch nicht lange her, da hatte sie ebenso über Maymaras Attraktionen gestaunt.
    Mitten im Gedränge nahm gerade der Ehrengast dieser Nacht Platz: Bator Sel, der reichste Reeder der Stadt. Summer hatte einen kräftigen, beeindruckenden Mann erwartet, nun aber war sie etwas enttäuscht, einen schmächtigen, farblosen Alten zu sehen, dem sein teurer Mantel zu groß schien. Nur die ehrfurchtsvollen Blicke der Einheimischen und das Schiffswappen auf seiner Schulter verrieten seinen hohen Stand. Summer war noch nicht lange bei der Schauspieltruppe, aber selbst sie wusste, dass das Theater der Nacht manche Geldflaute nur deshalb überstanden hatte, weil Bator Sel das Futter für die Tiere bezahlte. Die Mehrzahl der Raubtiere gehörte ohnehin ihm, schließlich waren
sie auf seinen Schiffen aus fremden Ländern gekommen, einzig und allein zu dem Zweck, hier vorgeführt zu werden. Aber es gab auch einige Chimären aus den versteckten Laboren in der Vorstadt: Missgestalten wie der zweiköpfige Fuchs, der dem Publikum besonders gefiel, und die Stute mit Tigerfell.
    »Was ist jetzt?«, drängte Mort. »Ist Bator da?«
    Summer trat vom Vorhangspalt zurück und nickte dem alten Mann zu. Inzwischen war ihm der Schweiß ausgebrochen, das schüttere blauschwarz gefärbte Haar klebte über seiner Halbglatze. Schweißperlen sammelten sich über gewaltigen Augenbrauen, die Mort selbst wie eine Bestie erscheinen ließen, wenn er finster dreinblickte. Doch Summer ließ sich durch seine Grobheit nicht täuschen. Er war zwar mürrisch und geizig und hätte seine Schauspieler am liebsten wie seine Tiere mit Peitsche und Stock über die Bühne getrieben. Aber um das altmodische Theater, das er vor einigen Jahren mit den Ersparnissen eines ganzen Lebens gekauft hatte, bangte er Abend für Abend wie um einen geliebten Menschen.
    »Bator hat seinen Platz eingenommen«, raunte ihm Summer beruhigend zu. »Wir können anfangen.«
    Als wäre ihr Flüstern ein Schlachtruf gewesen, reckte Mort die Peitsche in die Höhe. Augenblicklich wallte hinter der Bühne Bewegung auf. Bühnenarbeiter rannten zu ihren Plätzen, was die Schneekatzen zum Fauchen und die zahmen Vögel zum Flattern brachte. Helferinnen eilten zu den Kleidertruhen. Eine Leiter knarzte, während der dickliche Lichtmeister in den Bühnenboden hoch über ihren Köpfen kletterte. Und aus dem Augenwinkel sah Summer, wie Mort zu seinem Glücksbringer trat - eine Gesichtsmaske aus schwarzem Stoff, die an einem Stützbalken aufgehängt war. Als einziger Schmuck prangte auf der Stirn ein silberner
Katzenkopf, der von Morts allabendlicher Berührung schon ganz blank gerieben war.
    »Summer, trödel nicht herum, komm her!«, rief Spring. Aufgeregt winkte sie Summer zu. Wie immer war sie auch heute die Erste, die ihr Kostüm und sogar ihre Maske bereits trug. Aber auch tagsüber, wenn sie das Frühlingskostüm aus rosenfarbenen Schuppen, die vielleicht Blütenblätter, vielleicht auch Schlangenhaut darstellen sollten, noch nicht angelegt hatte, schien sie zu leuchten: ein etwas rundliches strohblondes Mädchen mit der marktschreierischen Schönheit einer Sirene. Im wirklichen Leben hieß Spring allerdings Ana und stammte aus Kamsí, einem kleinen Bergdorf irgendwo im Osten des Landes.
    »Eine Sekunde noch!«, flüsterte Summer zurück.
    Sie wandte sich wieder zum Vorhang um, schloss die Augen und stand einfach nur da. Ruhig und geborgen im Auge des Sturms konnte sie die Menge spüren, als stünde sie selbst inmitten der Schaulustigen: das Vibrieren ihrer Atemzüge, das heiser-schleifende Geräusch von Sohlen, die ungeduldig über den Boden scharrten, knarrende Stühle, ein Lachen hier und da. Das war der Augenblick, der nur ihr gehörte. Unsichtbar im Schatten zu stehen und allem doch so nahe zu sein, Haut an Haut mit Hunderten von schlagenden Herzen, Schicksalen und Träumen - auch wenn viele dieser Träume sich um Wein und Weiber drehten und keinen zweiten Blick wert sein mochten.
    Einer der Panther fauchte. Der Raubtiergeruch aus den Käfigen der Nebenbühne stach Summer heute besonders deutlich in die Nase, aber da war auch der Duft von teurem Parfüm, durchsetzt vom scharfen Aroma von Schweiß und dem Branntwein, der in den Hafenkneipen ausgeschenkt wurde. Vermutlich reizte dieser Geruch die Katzen.

    »Na, hast du schon Lampenfieber, Schöne?« Wie immer hatte Finn sich lautlos
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