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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz
Autoren: Nina Blazon
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Sumpfviper, die wie die kleineren Schlangen mit Leuchtpulver eingestäubt war, ließ ihre Wangen und ihr Haar im Dunkeln leuchten. »Zwei Stühle sind zerbrochen. Und mindestens dreißig Leute sind geflüchtet.«
    Musik setzte wieder ein, begleitet von Hufgeklapper auf der kleinen Nebenbühne, wohin der zweite Tierführer die Tigerstute dirigierte.
    »Geld hin oder her - ich warte nur darauf, dass diese Idioten von Ausländern mir alle Schlangen zertrampeln«, knurrte Mort, während er Ana das Reptil abnahm und behutsam im Käfig verstaute.
    Das Licht zuckte, als der Filmprojektor wieder zu laufen begann. Summer hörte, wie einige Zuschauer die Luft einsogen, und war sicher, dass sich so mancher an seinem Stuhl festhielt. Vor der
Leinwand tänzelte die Tigerstute mit Finn auf dem Rücken auf der Stelle, doch für das Publikum sah es vor der bewegten Kulisse so aus, als würden sie gemeinsam mit Geron mit unglaublicher Geschwindigkeit über den Himmel getragen.
    Mort machte sich eilig daran, die Vögel freizulassen. Das war Summers Zeichen. Vorsichtig bewegte sie sich in ihrem Astmantel zur Bühne. Sie hatte ihre Rolle schon mehr als fünfzigmal gespielt, doch so kurz vor dem Auftritt zitterten ihr jedes Mal die Hände. Lass die Löwen heute ruhig sein , bat sie im Stillen. Sie wusste nicht, warum, aber weder die Raubtiere noch das Pferd mochten sie. Nur die Vögel zeigten sich ihrer Nähe nicht aggressiv oder ängstlich.
    Im Spiegel, der seitlich in der Kulisse angebracht war, konnte sie in den Zuschauerraum sehen. Lange Lücken in den Sitzreihen und einzelne leere Stühle zeugten von Anas Auftritt. Auch der Stuhl links neben Bator Sel war leer.
    Mort scheuchte die Zierschwalben und die Pirole aus der Voliere. Im nächsten Moment stand Summer mitten in einem Schwarm. Flügelspitzen streiften ihre Wange. Der Luftzug bauschte die Seidenbänder an ihrem Rock. Das Stakkatolicht des Projektors warf zitternde Lichtstreifen auf die Vögel und ließ ihren Flug in hundert Momentaufnahmen erstarren.
    »Fünf… sechs… sieben…«, zählte Mort ihr vor. Summer setzte hastig die Schmetterlingsmaske aus Kupfer auf und atmete durch. Das war der kleine, flirrende Moment des Glücks, für den sie lebte: die Sekunde, in der sie sich selbst verlieren durfte.
    »… und los!«
    Umschwirrt vom federweichen Flügelschlag überschritt sie die Grenze zu einem anderen Sein. Der Sog des Flackerns nahm sie mit sich, löste Schicht um Schicht ihres Lebens, bis nichts mehr
von ihr selbst zurückblieb. Sie lächelte und die Maske schmiegte sich kühl an ihre Wangen, erwärmte sich dann in Sekundenschnelle und wurde zu einem Teil von ihr.
    Die Schwalben huschten dicht über den Köpfen der Zuschauer durch den Raum, als die Königin des Sommers auf die größte Lichtung des Waldes trat - ein Wald, in dem es vor Leben wimmelte: Hunderte von Vögeln, die auf jedes ihrer Zeichen reagierten, Kreise zogen und die Richtung wechselten. Auf der Bühne waren alle Sommertiere vor der Kulisse gemalter Bäume versammelt: zwei Mähnenlöwen und ein Dutzend seltener gescheckter Affen, Streifenwild von den fernen Inseln, Baumkröten und Papageien. Inmitten der Fülle wirkte Geron Sonnensohn noch einsamer. Die Sommerfrau befahl ihm mit herrischer Stimme, ihren Wald zu verlassen. In irgendeinem Winkel ihres Selbst fragte sich Summer in solchen Augenblicken verwundert, ob sie jemals jemand anderes gewesen war als jetzt und ob sie wirklich von Angst getrieben von Ort zu Ort gehetzt war.
    Der Mantel drückte auf ihre Schultern, als sich mehr als fünfzig Pirole in den Ästen niederließen. Noch fünf, sechs Schritte trug sie würdevoll die Last, dann entledigte sie sich mit einem Ruck an den Reißleinen des Kleidungsstücks, ließ es stehend als Sammelplatz für die Vögel zurück und ging auf den Krieger zu. Mit einem Mal war alles leicht, jeder Schritt war wie Fliegen, jeder Atemzug wie ein Lachen. Hier zuckte sie nicht vor Berührungen zurück und der Anblick von Händen bereiteten ihr kein Unbehagen. Sie flirtete mit Geron Sonnensohn und schlüpfte ihm immer wieder aus den Armen.
    »Besiege mich, wenn du kannst«, rief sie. »Doch ich warne dich: Sklaven magst du erbeuten, aber kein Sommer gehört dir für immer. Wer mich besitzt, lernt zu verlieren!«

    Anfeuerungsrufe ertönten im Publikum, als der größere Löwe auf Geron zustürzte. Der Kampf mit der Bestie sah beängstigend echt aus. Die Sommerfrau lachte und die Zeit glitt weiter.
    Geron und sie lebten
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