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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz
Autoren: Nina Blazon
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Jeder Sprung und jeder Prankenhieb waren tausendmal geprobt, und dennoch war der Kampf zwischen den Sonnenstieren und den Raubkatzen eines der schwierigsten Dressurstücke. Das Brüllen der Raubkatzen ließ auch die Schauspieler hinter der Bühne atemlos verharren. Summer schloss die Augen und spürte dem Widerhall der rauen Katzenstimmen nach. Der Boden bebte unter dem Gewicht der Stiere. Im Publikum kam vorsichtige Unruhe auf, vermutlich überlegten die ersten Zuschauer bereits, ob es eine gute Idee gewesen war, sich die »Mitternachtsmonster« anzusehen. Doch niemand wagte es, sich zu rühren und den Theaterraum zu verlassen.
    »… aber König Licht war mutig und rang mit der ewig Dunklen. Zwei Tage und drei Nächte dauerte ihr Kampf, doch weder
Licht noch Dunkelheit unterlagen. Am Morgen des dritten Tages hielten Todesfrau und Sonnenmann inne. Unbesiegt standen sie einander gegenüber, und ihnen gefiel, was sie sahen …«
    Künstlicher Donner brachte die Raubtiere zum Fauchen. Die Schneekatzen hinter der Bühne stimmten mit ein und liefen im Käfig hin und her. Der Silberstaub, den Mort ihnen über das weiße Rückenfell gestreut hatte, glitzerte wie frischer Schnee, aber solange die Katzen noch im Käfig saßen, wirkte der Zauber der Illusion nicht. Hier waren sie nicht die Begleiter der Winterfrau, sondern nur alte, schlecht gelaunte Raubtiere, denen der Geruch nach Menschen auch nach so vielen Jahren noch zu schaffen machte. Oft betrachtete Summer Morts Bestien bei Tag, wie sie in ihren Käfigen schliefen, sah zuckende Pfoten und Lefzen, hörte das traumverlorene Knurren und fragte sich, ob sie vielleicht im Schlaf ihr wahres Leben führten. Ob sie jagten und rannten und dachten, das Theater sei der Albtraum, aus dem sie sich jede Nacht zu erwachen mühten?
    »… und aus der Umarmung der Dunkelsten und des Hellsten entsprang … Geron, Sonnensohn!«
    Finns Auftritt. Eine Trommel setzte ein und gab den ruhelosen Füßen da draußen endlich etwas zu tun. Pfiffe und Stampfen erklangen aus dem Zuschauerraum. Das war der Moment, als Summer endgültig in den Strom des Stücks gerissen wurde. Ihre Wangen glühten vor Lampenfieber und der Erwartung, sich endlich in ihre Rolle fallen zu lassen und alles andere zu vergessen.
    Sie stolperte im Halbdunkel, als sie zu dem Verschlag mit den Kostümen eilte. Mia, die hagere, sommersprossige Herbstfrau, hatte sich ihr rotes Kostüm übergestreift und zurrte die Stützbandagen an den Handgelenken ungeduldig mit den Zähnen fest.
    »Lass mich das machen!« Summer sprang zu ihr. Mias Hände
waren sehnig und die Handflächen voller Schwielen. Sie war die Einzige, die ihre Rolle an Seilen hängend in der Luft spielte - eine windige Herbstgeliebte, die mit den Blättern am Himmel tanzte.
    Summer durfte am Boden bleiben, doch ihr Kostüm war das aufwendigste von allen: grün und prächtig wie der Sommer selbst. Blätter aus Samt schlossen sich um Schultern und Brüste, die wasserfarbene Seide des Unterkleides umfloss ihre Beine. Teurer Libellenschmuck musste in einem komplizierten Muster in ihr Haar gewunden werden. Zwei Helferinnen sprangen herbei und zupften und zerrten an Summers Haaren, kämmten die rotblonden Wellen zu glatten Strähnen und flochten und drehten, bis jedes der Metallinsekten seinen Platz gefunden hatte. Die Zeit begann zu fliegen - und während Summer noch damit beschäftigt war, die letzten Knoten an ihren Ärmeln und dem Rock zu knüpfen, war es bereits Zeit für den Auftritt von Spring, der Frühlingsgeliebten.
    Ein leiser Pfiff von Mort und alles erstarrte - nur Ana öffnete den Schlangenkäfig, ging in die Hocke und trommelte mit den Fingernägeln einen schnellen Takt auf den Boden. Die riesige Sumpfviper - Symbol des in der Wärme erwachenden Frühlings - nahm züngelnd Witterung auf und glitt aus dem Käfig und an Anas Arm hinauf. Behutsam trug die junge Schauspielerin das Reptil auf Händen und Schultern, während sie zur Bühne eilte. Oben im Bühnenboden polterte es, als die kleineren Schlangen aus den Kisten gelassen wurden. Die Behälter unter der Bühne würde Mort über einen Seilzug selbst öffnen.
    »Mein Vater ist König Licht, doch meine Mutter die blinde, grausame Lady Tod, die ihre eigenen Kinder verschlingt«, sprach Finn. »Mit schwarzen Klauen trachtet sie danach, all das Schöne zu zerreißen …«

    »Los, los, in den Mantel!«, zischte Mia Summer zu. Das schwere Kleidungsstück bestand aus Holzstöcken und Ästen, die wie ein Kragen
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