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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz
Autoren: Nina Blazon
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hinter Summers Kopf aufragten. Das Gewicht drückte sie im ersten Moment nieder, dann streckte sie die Knie durch und bemühte sich um eine aufrechte Haltung. Sie mochte den Mantel nicht, er machte sie unbeweglich, aber sie würde ihn zum Glück nicht lange tragen müssen. Helferinnen huschten um sie herum, zurrten und knoteten und führten schließlich alle dünnen Fixierleinen an Summers Handgelenken zusammen. Ein Ruck daran genügte und sie wäre wieder frei.
    Pfiffe und Applaus ertönten, als draußen der Frühling zu tanzen begann. Summer spürte die Vibration von Anas Sprüngen unter ihren Sohlen und sah die Szene vor sich, als könnte sie durch die Kulisse blicken: Anas Tanz mit der Sumpfviper, der die Männer im Publikum zum Schweigen und zum Starren brachte. Manch einem brach beim Anblick dieser giftigsten aller Schlangen der Schweiß aus. Doch Männern, die sich fürchteten, erschienen Frauen besonders schön und ihre Liebe besonders kostbar. Es war sicher kein Zufall, dass gerade Ana und Charisse, die mit den gefährlichsten Tieren auftraten, von Verehrern geradezu verfolgt wurden.
    Summer zählte Anas Schritte mit, bis diese aus der schnellen Drehung wieder zum Stehen kam und bewegungslos verharrte.
    Das war das Zeichen.
    Das Aufschnappen der Kisten, die Mort nun öffnete, hörten nur die Eingeweihten. Im selben Moment erloschen alle Lichter. Überraschte und entsetzte Schreie erklangen, als vier Dutzend Schlangen vom Bühnenboden herabfielen - im Dunkeln glomm die Zeichnung auf ihren Rücken. Sie waren Sternschnuppen auf Irrwegen, die auf Glatzen, Schultern und Schößen landeten, sich blitzschnell auf den Boden und unter Stuhlbeinen entlangschlängelten
und über zurückzuckende Schuhspitzen glitten. Weitere Schlangen krochen unter der Bühne hervor. Jetzt begann der Saal zu kochen. Irgendein Mann schrie wie am Spieß. Gepolter ertönte, Stühle fielen um, schwere, flüchtende Schritte ließen den Boden beben, Türen fielen donnernd ins Schloss.
    Feixend stieß Mia Summer an. Und auch Summer musste lachen, als sie das angstvolle Stöhnen der Männer hörte. Spätestens jetzt wäre jedem klar gewesen, dass der Großteil der Zuschauer aus der Fremde kam. Jeder Einwohner von Maymara wusste, dass die kleinen Sumpfvipern, die Mort ins Publikum ließ, keine Giftzähne mehr hatten.
    »Es wird Nacht, Geliebter«, rezitierte Ana ungerührt. »Die Schlangen streben zum Firmament, ich folge ihrem Schein.«
    Ein erneutes Aufstöhnen ging durch die Menge, als Ana mit der großen Viper von der Bühne sprang und durch das Publikum wirbelte. Das war der Moment, in dem auch Summer den Atem anhielt und hoffte, dass keiner im Publikum nach Kaninchen roch oder die riesige Schlange im falschen Augenblick erschreckte. Sie hatte als Einzige ihre Giftzähne noch.
    »Geh nicht!«, rief Geron Sonnensohn seiner Geliebten Spring klagend hinterher. »Warum küsst du mich, um mich dann wieder zu verlassen? Das Herz reißt du mir aus der Brust!«
    Wie immer an dieser Stelle bekam Summer eine Gänsehaut. Sie konnte nicht anders, als Finn für die Wehmut und den Schmerz in seiner Stimme tatsächlich zu lieben. Das Theaterstück war pathetisch und die Geschichte übertrieben und grell wie ein Jahrmarktsstück, die Schauspieler nur lebende Staffage für die Auftritte der Tiere. Doch Finn spielte Gerons Rolle, als gäbe es nichts anderes. Jedes Wort war echt. Ein Edelstein inmitten von Glasschmuck, dachte Summer. Du bist an Mort verschwendet .

    »Was soll ich denn mit deinem Herzen?, erwiderte der Frühling mit einem spöttischen Lachen. »Behalte es, mir hat es lange genug gehört. Erkennst du mich immer noch nicht, Geron? Ich bin deine Jugend. Mich kannst du nur ein einziges Mal in deinem Leben besitzen, ein zweites Mal teile ich dein Lager nicht.«
    In der Dunkelheit klopfte Mort mit dem Dressurstock sachte auf den Boden - ein komplizierter Befehl aus Morsezeichen, die nur seine Reptilien verstanden. Keine zehn Sekunden später folgte die erste Schlange aus dem Zuschauerraum diesem Ruf und glitt hinter die Kulissen - ein sich bewegendes, glimmendes Muster, das wie eine lebendig gewordene Schmuckkette in den Käfig kroch. Eine zweite und eine dritte Schlange kehrten aus dem Zuschauerraum zurück. Und dann ein weiteres Dutzend, das sich hinter den Maschen eines großen Käfigs sammelte. Schließlich schlüpfte auch Ana hinter die Bühne. »Lauter Betrunkene«, flüsterte sie atemlos und nahm die silberne Maske vom Gesicht. Die
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