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Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George
Autoren: Julian Barnes
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er ihn auf dem Katheder ab, als fürchtete er, ihn aus den Augen zu lassen.
    In der Pause zwischen den Unterrichtsstunden gehen die Jungen nach draußen; was sich Hof nennt, ist aber nur ein zertrampelter Rasenplatz mit Ausblick über offene Felder zu der fernen Zeche hin. Manche Jungen kennen sich bereits und fangen aus reiner Langeweile umgehend eine Rauferei an. George hat nie zuvor gesehen, wie Jungen raufen. Während er sich das anschaut, stellt sich Sid Henshaw, einer von den ruppigen Jungen, vor ihn hin. Henshaw schneidet Grimassen; er zieht mit den kleinen Fingern die Mundwinkel auseinander und drückt gleichzeitig mit den Daumen die Ohren nach vorn.
    »Guten Tag, ich heiße George«, sagt er, wie man es ihm beigebracht hat. Doch Henshaw gibt nur weiter gurgelnde Laute von sich und lässt die Ohren flattern.
    Einige Jungen kommen von einem Bauernhof, und George meint, sie röchen nach Kuh. Andere sind Bergarbeiterkinder und reden anscheinend anders. George erfährt die Namen seiner Klassenkameraden: Sid Henshaw, Arthur Aram, Harry Boam, Horace Knighton, Harry Charlesworth, Wallie Sharp, John Harriman, Albert Yates …
    Sein Vater sagt, er werde bald Freunde finden, aber er weiß nicht recht, wie man das anstellt. Eines Morgens schleicht Wallie Sharp sich auf dem Hof von hinten an ihn heran und flüstert:
    »Du bist kein rechter Kerl.«
    George dreht sich um. »Guten Tag, ich heiße George«, sagt er sein Sprüchlein auf.
    Am Ende der ersten Woche prüft Mr Bostock sie im Lesen, Schreiben und Rechnen. Am Montagmorgen gibt er die Ergebnisse bekannt, und dann werden sie umgesetzt. George kann gut aus dem vor ihm liegenden Buch lesen, versagt aber im Schreiben und Rechnen. Er soll in den hinteren Reihen bleiben. Am nächsten Freitag schneidet er nicht besser ab, und am übernächsten auch nicht. Sein Platz ist jetzt zwischen Bauernjungen und Bergarbeitersöhnen, denen es gleichgültig ist, wo sie sitzen, ja, die es für einen Vorteil halten, weiter von Mr Bostock entfernt zu sein, damit sie ungezogen sein können. George hat das Gefühl, er werde langsam von dem Weg, der Wahrheit und dem Leben vertrieben.
    Mr Bostock sticht mit einem Stück Kreide an die Tafel. » Das , George, plus das « (Stich) »ergibt – was ?« (Stich, Stich).
    In Georges Kopf verschwimmt alles, und er rät wild drauflos. »Zwölf«, sagt er, oder »siebeneinhalb«. Die Jungen in den vorderen Reihen lachen, und sobald die Bauernjungen begreifen, dass George etwas Falsches gesagt hat, stimmen sie in das Gelächter ein.
    Mr Bostock seufzt und schüttelt den Kopf und ruft Harry Charlesworth auf, der immer in der ersten Bank sitzt und ständig den Finger hebt.
    »Acht«, sagt Harry oder »dreizehneinviertel«, und Mr Bostock schaut zu George hin, um ihm zu zeigen, wie dumm er war.
    Eines Nachmittags beschmutzt sich George auf dem Heimweg ins Pfarrhaus. Seine Mutter zieht ihn aus, stellt ihn in die Wanne, schrubbt ihn ab, kleidet ihn wieder an und bringt ihn zum Vater. Doch George kann seinem Vater nicht erklären, warum er sich, obwohl er fast sieben Jahre alt ist, benommen hat wie ein Wickelkind.
    Das passiert noch einmal und dann noch einmal. Die Eltern bestrafen ihn nicht, doch sie sind offensichtlich enttäuscht von ihrem Erstgeborenen – dumm in der Schule, ein Baby auf dem Heimweg –, und das ist ebenso schlimm wie eine Strafe. Sie reden über seinen Kopf hinweg über ihn.
    »Das Kind hat deine Nerven, Charlotte.«
    »Zähne bekommt er jedenfalls nicht.«
    »Kälte können wir ausschließen, wir haben doch September.«
    »Und schwer verdauliche Nahrung auch, denn Horace fehlt nichts.«
    »Was bleibt dann noch?«
    »In dem Buch steht nur eine andere mögliche Ursache, nämlich Angst.«
    »George, hast du vor irgendetwas Angst?«
    George sieht seinen Vater an, den glänzenden Priesterkragen, das breite, nicht lächelnde Gesicht darüber, den Mund, der von der Kanzel in St. Mark’s die so häufig unverständliche Wahrheit verkündet, und die schwarzen Augen, die nun die Wahrheit von ihm fordern. Was soll er sagen? Er hat Angst vor Wallie Sharp und Sid Henshaw und einigen anderen, aber er will ja nicht petzen. Und vor denen hat er auch nicht die größte Angst. Schließlich sagt er: »Ich habe Angst davor, dumm zu sein.«
    »George«, antwortet sein Vater, »wir wissen, dass du nicht dumm bist. Deine Mutter und ich haben dir Schreiben und Rechnen beigebracht. Du bist ein gescheiter Junge. Zu Hause kannst du rechnen, aber in der Schule
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