Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George
Autoren: Julian Barnes
Vom Netzwerk:
dass er dazu ermahnt werden muss. Es ist einfacher: Man erwartet von ihm, dass er die Wahrheit sagt, denn im Pfarrhaus ist gar nichts anderes möglich.
    »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben«: Das soll er noch oft aus dem Mund seines Vaters hören. Der Weg, die Wahrheit und das Leben. Man geht seinen Weg durch das Leben, indem man die Wahrheit sagt. George weiß, dass das in der Bibel nicht unbedingt so gemeint ist, doch so hört es sich für ihn an, als er heranwächst.

[Menü]
Arthur
    Für Arthur bestand eine natürliche Distanz zwischen dem Elternhaus und der Kirche; doch beide Orte waren voller Erscheinungen, Geschichten und Vorschriften. In der kalten Steinkirche, die er einmal in der Woche aufsuchte, um dort niederzuknien und zu beten, waren Gott und Jesus Christus und die Zwölf Apostel und die Zehn Gebote und die Sieben Todsünden. Alles war genau geordnet, stets in Registern erfasst und nummeriert wie die Kirchenlieder und Gebete und Bibelverse.
    Er wusste, was er dort lernte, war die Wahrheit; seine Phantasie aber hielt sich lieber an die andere, parallele Version, die man ihm zu Hause beibrachte. Die Geschichten seiner Mutter handelten gleichfalls von fernen Zeiten und dienten gleichfalls dazu, ihm den Unterschied zwischen Gut und Böse beizubringen. Gewöhnlich stand die Mutter am Küchenherd, rührte das Porridge um und steckte sich dabei die Haare hinter die Ohren, und er wartete auf den Augenblick, wenn sie mit dem Rührholz an den Topf schlug, innehielt und ihm ihr rundes, lächelndes Gesicht zuwandte. Ihre grauen Augen ließen ihn nicht los, während ihre Stimme in der Luft einen bewegten Bogen beschrieb, auf und ab schnellte und dann langsamer wurde, bis sie fast zum Stillstand kam, denn nun war die Mutter an der Stelle ihrer Erzählung angelangt, die er kaum ertragen konnte, der Stelle, wo nicht nur dem Held und der Heldin, sondern auch dem Zuhörer unsägliche Qualen oder Freuden bevorstanden.
    »Und dann hing der Ritter über der Grube mit züngelnden Schlangen, welche zischten und spuckten, während ihre zuckenden Leiber sich um die bleichenden Knochen ihrer früheren Opfer wanden …«
    »Und dann zog der gemeine Schurke mit einem grässlichen Fluch einen verborgenen Dolch aus dem Stiefel und wollte ihn der wehrlosen …«
    »Und dann nahm die Maid eine Nadel aus ihrem Haar, und die goldenen Flechten fielen vom Fenster herab, tiefer und tiefer, und sie strichen sanft an den Mauern des Schlosses entlang, bis sie beinahe auf das frische grüne Gras reichten, in dem er stand …«
    Arthur war ein lebhafter, eigenwilliger Junge, der nicht gern stillsaß; doch sobald die Mama das Rührholz hob, blieb er in stummer Verzauberung gefangen, als hätte ein Bösewicht aus einer ihrer Geschichten ihm heimlich ein Kräutlein ins Essen getan. Dann schritten Ritter und ihre Damen durch die winzige Küche; Kampfansagen wurden gerufen, Abenteuer auf wundersame Weise bestanden; Rüstungen klirrten, Kettenhemden rasselten, und stets wurde die Ehre hochgehalten.
    Diese Geschichten waren auf eine Art, die er anfangs nicht verstand, mit einer alten Holztruhe verbunden, die neben dem Bett seiner Eltern stand und Dokumente über die Abstammung der Familie enthielt. Hier schlummerten wieder andere Geschichten, die eher den Hausaufgaben in der Schule glichen und von dem Herzoghaus von Brittany und dem irischen Zweig der Percys von Northumberland handelten und von einem Mann, der Packs Brigade bei Waterloo angeführt hatte und der Onkel des weißen, wächsernen Dinges war, das Arthur nie vergaß. Und damit wiederum verbunden waren die Privatstunden in Heraldik, die seine Mutter ihm gab. Aus dem Küchenschrank zog sie große Papptafeln hervor, die ein Onkel in London gemalt und koloriert hatte. Sie erklärte ihm die einzelnen Schilde und verlangte dann von ihm: »Blasoniere mir dieses Wappen!« Und er musste antworten, wie beim Einmaleins: Sporenrädlein, Sparren, sechsstrahliger Stern, Fünfblatt, Mondschein und dergleichen wunderliche Dinge mehr.
    Zu Hause lernte er zusätzliche Gebote zu den zehn, die er aus der Kirche kannte. »Sei furchtlos gegen die Starken, sanftmütig gegen die Schwachen«, lautete eins, ein anderes: »Übe Ritterlichkeit gegen die Frauen, ob von hohem oder niederem Stand.« Diese Gebote schienen ihm die wichtigeren zu sein, da sie direkt von der Mama kamen; außerdem verlangten sie nach praktischer Umsetzung. Arthurs Blick ging nicht über seine unmittelbare Umgebung hinaus. Die Wohnung
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher