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Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George
Autoren: Julian Barnes
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ihren Höhepunkt erreicht und endlich jemand im Publikum nickt oder den Arm hebt oder wie auf Kommando aufsteht oder freudig und ungläubig die Hände vors Gesicht schlägt?
    Es könnte nur ein raffiniertes Ratespiel sein: Sicher gibt es eine statistische Wahrscheinlichkeit, dass sich in einem Publikum dieser Größe eine Person mit dem richtigen Anfangsbuchstaben und dann dem richtigen Namen befindet, und ein Medium kann sich durch geschickte Wortwahl zu diesem Kandidaten führen lassen. Es könnte auch alles nur Schwindel sein; vielleicht sitzen Komplizen im Publikum, die leichtgläubige Naturen beeindrucken und womöglich bekehren sollen. Und dann gibt es noch eine dritte Möglichkeit: Wenn jemand aus dem Publikum nickt und den Arm hebt und aufsteht und einen Schrei ausstößt, ist er ehrlich überrascht und glaubt wirklich, dass ein Kontakt hergestellt wurde; doch das liegt daran, dass jemand aus ihrem Kreis – vielleicht ein glühender Spiritualist, der den Glauben unbedingt verbreiten will, egal mit welchen zynischen Mitteln – den Veranstaltern persönliche Einzelheiten verraten hat. Ja, denkt George, so wird es wohl sein. Eine raffinierte Mischung aus Wahrheit und Lüge wirkt am besten, genau wie bei einem Meineid.
    »Und jetzt habe ich eine Botschaft von einem Herrn, einem sehr korrekten und vornehmen Herrn, der vor zehn Jahren, zwölf Jahren hinüberging. Ja, ich habe es, er ging 1918 hinüber, wie er mir sagt.« Das Jahr, in dem Vater starb, denkt George. »Er war etwa fünfundsiebzig Jahre alt.« Seltsam, Vater war sechsundsiebzig. Eine längere Pause, und dann: »Er war ein geistlicher Herr.« George spürt plötzlich ein Kribbeln auf der Haut, das die Arme hinaufläuft bis zum Hals. Nein, nein, das kann nicht sein. Ihm ist, als wäre er auf seinem Platz festgefroren; seine Schultern sind wie gelähmt; er sieht starr zur Bühne und wartet, was das Medium als Nächstes tun wird.
    Mrs Roberts hebt den Kopf und schaut in die oberen Bereiche des Saals, zwischen die höheren Logen und die Galerie. »Er sagt, er habe seine ersten Lebensjahre in Indien verbracht.«
    George ist inzwischen schreckensbleich. Außer Maud wusste niemand, dass er hierherkommen würde. Vielleicht hat sich jemand gedacht, es seien wahrscheinlich verschiedene Leute hier, die mit Sir Arthur zu tun hatten, und hat einfach drauflosgeraten – oder vielmehr genau richtig geraten. Aber nein – schließlich haben viele der berühmtesten und angesehensten Freunde nur ein Telegramm geschickt, wie Sir Oliver Lodge. Hat ihn womöglich jemand erkannt, als er hereinkam? Das könnte gerade noch möglich sein – doch wie hat derjenige dann das genaue Todesjahr seines Vaters herausgefunden?
    Mrs Roberts hat jetzt den Arm ausgestreckt und deutet zur oberen Logenreihe auf der anderen Seite des Saals hin. George kribbelt es am ganzen Körper, als hätte man ihn nackt in die Nesseln geworfen. Er denkt: Das ertrage ich nicht; gleich wird es mich treffen, und ich kann nicht entfliehen. Blick und Arm machen langsam die Runde durch das große Amphitheater, immer auf derselben Höhe, als beobachteten sie ein Geistwesen, das sich suchend von Loge zu Loge bewegt. Alle rationalen Überlegungen, die George eben noch angestellt hat, sind nun nichts mehr wert. Gleich wird sein Vater zu ihm sprechen. Sein Vater, der sein Leben lang als Pfarrer in der Kirche von England gewirkt hat, wird gleich durch den Mund dieser … unglaublichen Frau zu ihm sprechen. Was kann er nur wollen? Welche Botschaft kann so dringlich sein? Geht es um Maud? Ist es eine väterliche Rüge für den nachlassenden Glauben des Sohnes? Wird jetzt ein furchtbares Urteil über ihn gefällt? Der Panik nahe wünscht George, seine Mutter wäre bei ihm. Doch die Mutter ist seit sechs Jahren tot.
    Während sich der Kopf des Mediums langsam weiterbewegt, während ihr Arm noch immer auf dieselbe Höhe zeigt, hat George mehr Angst als an dem Tag, als er in seiner Kanzlei saß und wusste, dass es bald klopfen und ein Polizist ihn wegen eines Verbrechens festnehmen würde, das er nie begangen hatte. Jetzt steht er wieder unter Verdacht und wird gleich vor zehntausend Zeugen bloßgestellt werden. Vielleicht sollte er einfach aufstehen und der Spannung ein Ende setzen, indem er ruft: »Das ist mein Vater!« Vielleicht fällt er dann in Ohnmacht und stürzt über den Balkon in die unteren Logen. Vielleicht bekommt er einen Anfall.
    »Sein Name … er sagt mir seinen Namen … Er beginnt mit einem S
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