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Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George
Autoren: Julian Barnes
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…«
    Und immer noch bewegt sich der Kopf, bewegt sich und sucht dieses eine Gesicht in den oberen Logen, sucht den triumphalen Moment der Bestätigung. George ist überzeugt, dass alle ihn anstarren – und bald wissen sie genau, wer er ist. Doch jetzt fürchtet sich George, erkannt zu werden, was er sich vorhin noch gewünscht hatte. Er möchte sich im tiefsten Kerker, in der widerlichsten Gefängniszelle verkriechen. Er denkt, das kann nicht wahr sein, das kann unmöglich wahr sein, so etwas würde mein Vater nie tun, vielleicht beschmutze ich mich gleich wie damals als kleiner Junge auf dem Heimweg von der Schule, vielleicht kommt er deswegen, um mir vor Augen zu führen, dass ich ein Kind bin, um mir zu zeigen, dass seine Autorität selbst nach seinem Tode weiterbesteht, ja, das sähe ihm durchaus ähnlich.
    »Ich habe den Namen …« George meint, gleich schreit er. Gleich fällt er in Ohnmacht. Er wird stürzen und mit dem Kopf aufschlagen und … »Er heißt Stuart.«
    Und da steht ein Mann etwa in Georges Alter wenige Meter links von ihm auf und macht ein Zeichen zur Bühne hin, um diesen in Indien aufgewachsenen und 1918 hinübergegangenen Fünfundsiebzigjährigen für sich zu reklamieren, fast so, wie man sich einen Preis abholt. George meint den Schatten des Todesengels auf sich zu spüren; ihm ist kalt bis auf die Knochen; er ist schweißgebadet, erschöpft, verschreckt, unendlich erleichtert und tief beschämt. Und zugleich ist er im tiefsten Innern auch beeindruckt, neugierig, voll furchtsamer Fragen …
    »Und hier ist eine Dame, sie war zwischen fünfundvierzig und fünfzig Jahren alt. Sie ist 1913 hinübergegangen. Sie spricht von Morpeth. Sie hat nie geheiratet, aber sie hat eine Botschaft für einen Herrn.« Mrs Roberts schaut nach unten, in die Arena. »Sie sagt etwas von einem Pferd.«
    Eine Pause tritt ein. Mrs Roberts lässt wieder den Kopf sinken, dreht ihn zur Seite, holt sich Rat. »Jetzt habe ich ihren Namen. Sie heißt Emily. Ja, sie gibt ihren Namen als Emily Wilding Davison an. Sie hat eine Botschaft, sie ist eigens gekommen, um einem Herrn eine Botschaft zu übermitteln. Ich glaube, sie hat ihm durch die Planchette oder das Ouijabrett mitgeteilt, dass sie hier sein wird.«
    Nicht weit von der Bühne steht ein Mann mit offenem Hemdkragen auf und sagt mit weittragender Stimme, als wüsste er, dass er zu einem ganzen Saal spricht: »Das stimmt. Sie hat mir gesagt, dass sie heute Abend kommunizieren wird. Emily ist die Suffragette, die sich vor das Pferd des Königs geworfen hat und an ihren Verletzungen gestorben ist. Als Geistwesen ist sie mir gut bekannt.«
    Der ganze Saal scheint den Atem anzuhalten. Mrs Roberts übermittelt die Botschaft, doch George hört gar nicht mehr hin. Auf einmal ist er wieder bei klarem Verstand; der reine, frische Wind der Vernunft zieht wieder durch sein Hirn. Hokuspokus, wie er schon immer vermutet hat. Emily Davison, so ein Blödsinn. Emily Davison, die Fensterscheiben eingeschlagen, Steine geworfen, Briefkästen angezündet hat; die sich den Gefängnisregeln nicht beugen wollte und infolgedessen mehrmals zwangsernährt wurde. In Georges Augen eine alberne, hysterische Frau, die absichtlich den Tod suchte, um ihr Anliegen voranzutreiben; auch wenn manche sagen, sie habe dem Pferd nur eine Fahne anstecken wollen und die Geschwindigkeit des Tiers falsch eingeschätzt. Dann wäre sie nicht nur hysterisch, sondern auch noch dumm gewesen. Man kann nicht die Gesetze brechen, um die Gesetze zu verbessern, das ist Unsinn. Das macht man mit Petitionen, mit Argumenten, wenn nötig mit Demonstrationen, aber immer mit Vernunft. Wer Gesetze bricht und meint, das sei ein Argument, um das Wahlrecht zu bekommen, beweist damit nur, dass er nicht geeignet ist, dieses Wahlrecht zu bekommen.
    Aber hier ist es nicht wesentlich, ob Emily Davison nun eine alberne, hysterische Frau war oder ob ihre Aktion zur Folge hatte, dass Maud jetzt das Wahlrecht hat, womit George vollkommen einverstanden ist. Nein, wesentlich ist, dass Sir Arthur als Gegner des Frauenwahlrechts bekannt war und es daher völlig abwegig wäre, wenn so ein Geist an seiner Gedenkfeier teilnähme. Es sei denn, die Geister der Verstorbenen wären ebenso unlogisch wie ungebärdig. Vielleicht wollte Emily Davison diese Versammlung stören, so wie sie einst das Derby-Rennen gestört hatte. Doch dann sollte sich ihre Botschaft eher an Sir Arthur oder seine Witwe richten als an einen gleich gesinnten Freund.
    Halt,
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