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Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George
Autoren: Julian Barnes
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gegenseitig übertönenden Stimmen hinter und neben ihr vorübergehend abgeklungen. Dann wirft das Medium plötzlich den rechten Arm hoch und deutet zu den hinteren Reihen des Parketts auf der Seite, die George gegenüberliegt. »Ja, hier! Ich sehe ihn! Ich sehe das Geistwesen eines jungen Soldaten. Er sucht jemanden. Er sucht einen Herrn, der kaum noch Haare hat.«
    Wie alle anderen, die den ganzen Saal im Blick haben, schaut George sich eifrig um, halb in Erwartung eines sichtbaren Geistwesens, halb auf der Suche nach dem Mann, der kaum noch Haare hat. Mrs Roberts legt sich schützend die Hand über die Augen, als behinderten die Scheinwerfer ihre Wahrnehmung des Geistwesens.
    »Er scheint ungefähr vierundzwanzig Jahre alt zu sein. In einer Khaki-Uniform. Aufrecht, gut gebaut, kleiner Schnurrbart. Mundwinkel hängen etwas herab. Ist plötzlich hinübergegangen.«
    Mrs Roberts hält inne und neigt den Kopf zur Seite, etwa so wie ein Anwalt, wenn ihn der Solicitor neben ihm auf einen Vermerk aufmerksam macht.
    »Er gibt 1916 als das Jahr seines Übergangs an. Er nennt dich deutlich ›Onkel‹, ja, ›Onkel Fred‹.«
    Hinten im Parkett steht ein glatzköpfiger Mann auf, nickt und setzt sich ebenso unvermittelt wieder hin, als wisse er nicht recht, welche Regeln hier gelten.
    »Er spricht von einem Bruder Charles«, fährt das Medium fort. »Ist das richtig? Er will wissen, ob Tante Lillian bei dir ist. Verstehst du?«
    Diesmal bleibt der Mann sitzen und nickt heftig.
    »Er sagt, es ist gerade etwas gefeiert worden, der Geburtstag eines Bruders. Es herrscht Angst im Haus. Dafür gibt es keinen Grund. Die Botschaft geht weiter …«, und da wankt Mrs Roberts auf einmal nach vorn, als hätte sie von hinten einen heftigen Stoß bekommen. Sie dreht sich um und schreit: »Ist ja gut !« Anscheinend schiebt sie etwas zurück. »Ist ja gut !, sag ich.«
    Doch als sie sich wieder der Arena zuwendet, ist der Kontakt zu dem Soldaten erkennbar abgerissen. Das Medium bedeckt das Gesicht mit den Händen, die Finger sind gegen die Stirn gepresst, die Daumen unter den Ohren, als wollte sie das nötige Gleichgewicht wieder finden. Schließlich nimmt sie die Hände fort und breitet die Arme aus.
    Diesmal ist es der Geist einer Frau zwischen fünfundzwanzig und dreißig, deren Name mit J anfängt. Sie wurde während der Geburt eines kleinen Mädchens erhoben, das zur selben Zeit hinüberging. Mrs Roberts mustert die vorderen Reihen der Arena, ihr Blick folgt einer Mutter mit dem Geistwesen eines Säuglings auf dem Arm, die ihren zurückgelassenen Ehemann sucht. »Ja, sie sagt, sie heißt June – und sie sucht nach – R, ja, R – heißt er Richard?« Daraufhin springt ein Mann von seinem Platz auf und ruft: »Wo ist sie? Wo bist du, June? June, sprich mit mir. Zeig mir unser Kind!« Er ist ganz außer sich und schaut sich nach allen Seiten um, bis ihn ein älteres Ehepaar mit verlegener Miene wieder auf seinen Platz zieht.
    Mrs Roberts hat sich anscheinend voll und ganz auf die Geiststimme konzentriert und sagt, als hätte es die Unterbrechung gar nicht gegeben: »Die Botschaft lautet, sie und das Kind wachen über dich und stehen dir bei deinen derzeitigen Problemen bei. Sie warten im Jenseits auf dich. Sie sind glücklich und wollen, dass auch du glücklich bist, bis ihr alle wieder vereint seid.«
    Wie es scheint, benehmen sich die Geister jetzt gesitteter. Es werden Personen bezeichnet und Botschaften überbracht. Ein Mann sucht seine Tochter. Sie interessiert sich für Musik. Er hält eine aufgeschlagene Partitur in der Hand. Initialen werden genannt, dann Namen. Mrs Roberts überbringt die Botschaft: Der Geist eines großen Musikers hilft der Tochter des Mannes; wenn sie weiterhin fleißig ist, wird der Einfluss des Geistes fortwirken.
    Allmählich zeichnet sich für George ein Schema ab. Die übermittelten Botschaften, sei es des Trostes oder der Unterstüzung oder des einen wie des anderen, sind sehr allgemein gehalten. Dasselbe gilt für die meisten Erkennungsmerkmale, zumindest am Anfang. Dann aber kommt ein entscheidendes Detail, nach dem das Medium oft lange suchen muss. George kommt es höchst unwahrscheinlich vor, dass diese Geister, wenn es sie denn gibt, so erstaunlich unfähig sein sollen, ihre Identität ohne viel Rätselraten von Mrs Roberts preiszugeben. Sind die angeblichen Übermittlungsprobleme zwischen den beiden Welten nichts als eine Masche, um die Dramatik – ja, Melodramatik – zu steigern, bis sie
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