Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George
Autoren: Julian Barnes
Vom Netzwerk:
Vorübergehendes.«
    »Beim Übergang gibt es nichts zu fürchten, und unser großer Mitstreiter hat es bewiesen, indem er heute Abend hier unter uns erscheint.«
    Die Frau auf Georges linker Seite beugt sich über die samtene Armlehne und flüstert: »Er ist hier.«
    Inzwischen sind einige aufgesprungen, als wollten sie einen besseren Blick auf die Bühne bekommen. Alles schaut wie gebannt auf den leeren Stuhl, auf Mrs Roberts, auf die Familie Doyle. George wird erneut von einem Gemeinschaftsgefühl erfasst, das größer und mächtiger ist als die Stille. Die Furcht, die ihn bei dem Gedanken befallen hatte, sein Vater könne ihm nachstellen, ist ebenso von ihm gewichen wie die Skepsis beim Erscheinen von Emily Davison. Ohne es zu wollen, wird er von einer Art verhaltener Ehrfurcht ergriffen. Schließlich ist hier von Sir Arthur die Rede, dem Mann, der George bereitwillig mit seinen detektivischen Fähigkeiten zu Hilfe kam, der seinen guten Ruf aufs Spiel setzte, um Georges Ehre zu retten, der alles tat, damit George das Leben wiedergegeben wurde, das ihm geraubt worden war. Sir Arthur, ein Mensch von höchster Integrität und Intelligenz, glaubte an ein Geschehen wie das, was George eben erlebt hat; es wäre ungehörig, wenn George in einem solchen Moment seinen Retter verleugnete.
    George glaubt nicht, dass er den Verstand oder den klaren Blick verliert. Er fragt sich: Und wenn das nun diese Mischung aus Wahrheit und Lüge ist, die er vorhin erkannt hat? Wenn einiges an dem Geschehen Scharlatanerie ist, aber anderes echt? Wenn die theatralische Mrs Roberts ohne ihr Zutun tatsächlich Nachrichten aus fernen Gefilden gebracht hat? Wenn Sir Arthur, in welcher Gestalt und an welchem Ort er sich auch befinden mochte, keinen Kontakt zu der materiellen Welt aufnehmen kann, ohne auf Mittelsleute zurückzugreifen, die sich unter anderem auch als Betrüger betätigen? Wäre das nicht eine Erklärung?
    »Er ist hier«, wiederholt die Frau zu seiner Linken in normalem Gesprächston.
    Dann wird dieser Satz von einem mehrere Plätze entfernt sitzenden Mann aufgegriffen. »Er ist hier.« Drei Worte, in normaler Tonlage gesprochen, sodass sie nur im engsten Umkreis zu hören sein sollten. Doch die Atmosphäre im Saal ist so mit Spannung geladen, dass sie auf magische Weise verstärkt scheinen.
    »Er ist hier«, wiederholt jemand oben auf der Galerie.
    »Er ist hier«, antwortet eine Frau unten in der Arena.
    Und plötzlich brüllt ein Mann im hinteren Teil des Parketts wie ein Erweckungsprediger: » ER IST HIER !«
    George greift instinktiv nach unten und zieht das Fernglas aus dem Etui. Er presst es gegen seine Brille und versucht, es auf die Bühne einzustellen. Daumen und Zeigefinger drehen hektisch immer wieder an der richtigen Einstellung vorbei, bis sie endlich in der Mitte landen. Er betrachtet das ekstatische Medium, den leeren Stuhl und die Familie Doyle. Lady Conan Doyle verharrt seit der ersten Bekanntgabe von Sir Arthurs Anwesenheit in derselben Pose: hoch aufgerichtet, die Schultern gestrafft, den Kopf erhoben, den Blick in die Ferne gerichtet, und auf ihrem Gesicht liegt – wie George jetzt erkennen kann – etwas, das einem Lächeln gleicht. Die goldhaarige, kokette junge Frau, der er einst kurz begegnet war, ist nun eher dunkelhaarig und matronenhaft; er hat sie immer nur an Sir Arthurs Seite gesehen, wo sie, wie sie behauptet, auch jetzt noch ist. Er schwenkt das Fernglas hin und her, richtet es auf den Stuhl, das Medium, die Witwe. Er spürt seinen schnell und scharf gehenden Atem.
    Jemand berührt ihn an der rechten Schulter. Er lässt das Fernglas sinken. Die Frau schüttelt den Kopf und sagt leise: »So können Sie ihn nicht sehen.«
    Das ist kein Tadel, nur eine Erklärung.
    »Sie sehen ihn nur mit den Augen des Glaubens.«
    Mit den Augen des Glaubens. Den Augen, die Sir Arthur mitbrachte, als sie sich im Grand Hotel, Charing Cross, trafen. Er hatte an George geglaubt; sollte George jetzt an Sir Arthur glauben? Die Worte seines Fürsprechers: Ich denke nicht, ich glaube nicht, ich weiß . Sir Arthur trug eine beneidenswerte, trostreiche Gewissheit in sich. Er wusste. Was weiß er, George? Weiß er nun endlich irgendetwas? Wie groß ist die Summe des Wissens, das er in seinen vierundfünfzig Jahren erworben hat? Er ist meist als Lernender durchs Leben gegangen und hat gewartet, dass man ihm etwas erklärt. Die Autorität anderer war ihm immer wichtig; hat er auch eigene Autorität? Mit vierundfünfzig denkt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher