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Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George
Autoren: Julian Barnes
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er vieles, glaubt er einiges, aber was kann er tatsächlich an Wissen für sich in Anspruch nehmen?
    Die Schreie, die von Sir Arthurs Anwesenheit Zeugnis ablegten, sind nun verklungen, vielleicht deshalb, weil von der Bühne keine Antwort kam. Was hatte Lady Conan Doyle zu Beginn der Feier verkündet? Dass unsere irdischen Augen nicht über die weltliche Sphäre hinaussehen können; dass nur diejenigen, denen Gott diese besondere Fähigkeit verliehen hat, die man Hellsichtigkeit nennt, die uns liebe und teure Gestalt in unserer Mitte erkennen können. Es wäre in der Tat ein Wunder gewesen, wenn Sir Arthur den unterschiedlichen Menschen, die noch immer in verschiedenen Teilen des Saals herumstehen, die Kraft der Hellsichtigkeit hätte verleihen können.
    Nun meldet sich Mrs Roberts wieder zu Wort.
    »Ich habe eine Botschaft für dich, meine Liebe, von Arthur.«
    Und wieder dreht Lady Conan Doyle nicht den Kopf.
    Mrs Roberts bewegt sich in einer langsam wehenden Wolke von schwarzem Satin nach links, zur Familie Doyle und dem leeren Stuhl. Als sie bei Lady Conan Doyle ist, stellt sie sich neben und ein wenig hinter sie und wendet das Gesicht dem Teil des Saales zu, in dem George sitzt. Trotz der Entfernung sind ihre Worte leicht zu verstehen.
    »Sir Arthur sagt mir, heute Morgen sei einer von euch zum Gartenhäuschen gegangen.« Sie wartet, und als die Witwe nicht antwortet, fragt sie noch einmal nach. »Stimmt das?«
    »Ja, natürlich«, antwortet Lady Conan Doyle. »Ich war dort.«
    Mrs Roberts nickt und spricht weiter. »Die Botschaft lautet: Sag Mary …«
    In diesem Moment ertönt wieder ein gewaltiges Orgelbrausen. Mrs Roberts beugt sich weiter vor und spricht unter dem Schutz des Getöses weiter. Lady Conan Doyle nickt hin und wieder. Dann schaut sie den hochgewachsenen Sohn im Frack zu ihrer Linken fragend an. Er wiederum sieht Mrs Roberts an, die nun zu beiden spricht. Dann steht der andere Sohn auf und gesellt sich zu ihnen. Die Orgel donnert gnadenlos weiter.
    George weiß nicht, ob die Botschaft aus Rücksicht auf die Privatsphäre der Familie oder als Teil der Inszenierung übertönt wird. Er weiß nicht, ob er Wahrheit oder Lüge gesehen hat oder eine Mischung von beidem. Er weiß nicht, ob die offenkundige, überraschende, unenglische Inbrunst der Menschen um ihn herum an diesem Abend ein Beweis für Scharlatanerie oder für Gläubigkeit ist. Und wenn sie Gläubigkeit beweist, ob es ein wahrer oder ein falscher Glaube ist.
    Mrs Roberts hat ihre Botschaft übermittelt und wendet sich an Mr Craze. Die Orgel dröhnt weiter, auch wenn es nichts mehr zu übertönen gibt. In der Familie Doyle werden Blicke gewechselt. Wie soll die Feier jetzt weitergehen? Alle Lieder sind gesungen, alle Huldigungen dargebracht. Das kühne Experiment ist durchgeführt, Sir Arthur ist in ihre Mitte gekommen, seine Botschaft ist überbracht.
    Die Orgel spielt weiter. Offenbar verfällt sie nun allmählich in die Rhythmen, mit denen eine Gemeinde nach einer Hochzeit oder Beerdigung musikalisch verabschiedet wird: eindringliche und beharrliche Klänge, die die Versammelten in die alltägliche, schmutzige, irdische Welt ohne Zauber und Magie zurücktreiben. Die Familie Doyle verlässt die Bühne, dann folgen die Vorsitzenden der Marylebone Spiritualist Association, die Sprecher und Mrs Roberts. Leute stehen auf, Frauen suchen unter dem Sitz nach ihrer Handtasche, Männer im Frack entsinnen sich ihrer Zylinder, dann hört man Füßescharren und Gemurmel, man begrüßt Freunde und Bekannte, und in jedem Gang steht eine ruhige, nicht drängelnde Menschenschlange. Georges Nachbarn sammeln ihre Sachen ein, stehen auf, nicken ihm zu und schenken ihm ein Lächeln voller Herzlichkeit und Gewissheit. George antwortet mit einem Lächeln, das jenem nicht gleichkommt, und bleibt sitzen. Als sein Teil des Saales fast leer ist, greift er erneut nach unten und drückt das Fernglas gegen seine Brille. Er stellt die Gläser noch einmal auf die Bühne ein, auf die Hortensien, die Reihe leerer Stühle und den einen speziellen leeren Stuhl mit seiner Papptafel, den Platz, an dem Sir Arthur, möglicherweise, war. So schaut er durch mehrere geschliffene Gläser in die Luft und darüber hinaus.
    Was sieht er?
    Was hat er je gesehen?
    Was wird er sehen?

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Anmerkung des Autors
Anmerkung des Autors
    Arthur trat in den folgenden Jahren weiterhin bei Séancen in Erscheinung; seine Familie erklärte allerdings nur sein Erscheinen bei einer privaten
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