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Seelenangst

Seelenangst

Titel: Seelenangst
Autoren: Veit Etzold
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Prolog
    S ATAN , MACH MICH SEHEND
    Er sah seine Augen in dem Spiegel, seine Augen und sein Gesicht, das ihm im kalten Licht der Neonröhre wie ein Totenschädel entgegenstarrte. Grau, eingefallen, fast schon tot. In diesem Gesicht fehlte etwas. Der Wille. Ja, der Wille, es zu versuchen, und sei es um den Preis des eigenen Lebens. Und dadurch stärker zu werden als jemals zuvor.
    Er senkte den Blick und sah das Skalpell, betrachtete es wieder, wie schon die letzte halbe Stunde. Auch auf der Klinge spiegelte sich sein Gesicht, verzerrt und verschwommen, als wäre er bereits Teil der Geisterwelt, die er beschwören wollte.
    Das Triumvirat, dachte er. Die, die zu ihm sprachen. Satan, Luzifer und Asmodeus. Er sah das grelle Licht der Deckenlampe. Durch das hohe Kellerfenster konnte er den pechschwarzen Nachthimmel und die Sichel des Mondes sehen, die wie ein silberner, gekrümmter Dolch aussah.
    Du musst es tun , hörte er die Stimme in seinem Kopf.
    Da war etwas, das in ihm sprach, ohne er selbst zu sein, tiefer und schwärzer als ein bodenloser Abgrund. Etwas, das dort aus den Äonen der Zeit und der Unendlichkeit des Alls hervorbrach.
    Älter als das Leben und dunkler als der Tod.
    Er wusste nicht, woher diese Stimme kam. Er wusste nur, dass tief in ihm etwas auf ihn wartete. Und dieses Etwas würde ihn erst loslassen, wenn er getan hatte, was er tun musste.
    Satan, mach mich sehend.
    Es würde wehtun, furchtbar wehtun. Doch es gab keine andere Möglichkeit für ihn, wirklich sehend zu werden.
    Er hob das Skalpell, schaute in den Spiegel und drückte nach kurzem Zögern die Klinge am linken, inneren Augenwinkel in die Augenhöhle. Er verstärkte den Druck, und das erste Blut begann zu fließen. Er nahm den kupfernen Geruch wahr und fühlte das warme Rinnsal, das seine Wange hinunterlief.
    Der Schmerz war unvorstellbar, doch er machte weiter, obwohl seine Hände immer stärker zitterten, während er mit der Klinge einen Kreis vollführte, durch Haut und Sehnen, Muskeln und Nervenbahnen schnitt, um das Unmögliche zu vollbringen, das Unaussprechliche, Grauenhafte.
    Satan, mach mich sehend.
    Er schnitt noch einmal, während das Blut an seinem Nasenflügel hinunterlief und über seinen Hals auf die Tischplatte tropfte. Dann zog er das blutige Skalpell heraus, um es noch einmal anzusetzen, noch einmal den Druck zu verstärken. Wieder spürte er das Knirschen und Schnappen, als Muskeln durchtrennt wurden und das Skalpell den Knochen berührte, während er in einem Delirium aus Schmerz, Schock und Blut starb und wiedergeboren wurde und die Stimme in seinem Kopf ihn weiterhin antrieb, das Verbotene zu tun.
    Die Stimme, die aus den Tiefen des Nichts zu ihm sprach.
    Älter als das Leben und dunkler als der Tod.
    Schließlich hob er die rechte Hand und zog etwas aus der Augenhöhle. Die feinen Äderchen, Muskeln und Nervenstränge verliehen diesem Etwas das Aussehen einer bizarren Blume. Langsam legte er es vor sich auf den Tisch. Warmes, frisches Blut zeichnete groteske Muster auf das schmutzige Metall, während vor seinem inneren Auge gespenstische Horden erschlagener Seelen vorüberzogen, deren Gesang sich in höllischem Crescendo in sein Hirn brannte und seiner Seele das Siegel der Hölle aufdrückte.
    LEBEN, TÖTEN, SEHEN.
    DU WIRST SEHEN , hatte die Stimme ihm gesagt. MEHR ALS ZUVOR.
    Irgendwann war es vollbracht, und er legte das blutige Skalpell beiseite, neben den von Blutspritzern bedeckten Spiegel auf die Tischplatte, die jetzt ebenfalls blutrot gefärbt war. Das Zittern seiner Hände hatte aufgehört. Etwas Unfassbares, nie Erlebtes durchströmte ihn.
    Er hatte sämtliche Drogen ausprobiert, hatte Tiere geopfert und ihr Blut getrunken, hatte Menschen gequält, geschändet und getötet, doch die größte Ekstase hatte sein Meister ihm für diesen Augenblick vorbehalten, der ihm zeigte, dass es sich lohnte, ihm zu gehorchen und zu vertrauen. Der ihm zeigte, dass er einer der Auserwählten war.
    Das Leben war grausam, doch was danach kam, konnte noch grausamer werden. Er aber würde in dieser Nachwelt, dieser Hölle, über jene herrschen, die er erschlagen hatte. Er würde mehr sein, als er auf Erden jemals gewesen war. Er würde sie finden. Er würde ihr dunkles Geheimnis entschlüsseln. Und er würde sie töten.
    Aber er würde noch mehr tun. Er würde sie versklaven. Für alle Ewigkeit.
    In der Hölle gab es keine Gesetze. Der Stärkere würde die Schwachen beherrschen. Und der Stärkere würde er sein. Wenn er alles
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