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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit
Autoren: Peter Scholl-Latour
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über die Grenze drangen, klangen nicht gut. Das Oberkommando der Befreiungsarmee hatte seine ehrgeizigen Pläne aufstecken müssen. Den teilweise in Bataillonsstärke operierenden Partisanen war der Befehl erteilt worden, sich wieder in kleine Trupps, in »Kataeb«, aufzulösen und den individuellen Terror zu aktivieren. Die Franzosen hatten längs der Grenze elektrische Zäune und Minenfelder angelegt. Diese »Barrage«, die sogenannte Morice-Linie, erwies sich als ein mörderisches Hindernis für die Infiltranten. Mit einiger Sorge sah man der großangekündigten französischen Offensive gegen die fünf Gebirgs-Bollwerke der Rebellen von den Nementscha bis zu den Höhen um Tlemcen entgegen.
    Â»Bestehen Sie weiterhin vor jeder Verhandlung mit Paris auf Anerkennung der algerischen Unabhängigkeit durch Frankreich?« hatte ich im Hauptquartier der FLN in Tunis gefragt. »Für uns ist die Unabhängigkeit nicht irgendeine Verhandlungsfrage«, wurde mir geantwortet, »sie ist überhaupt der letzte Sinn unseres Kampfes. WennFrankreich einmal unsere Unabhängigkeit anerkannt hat, dann sind wir bereit, über alles andere zu diskutieren. Aber von der ›Istiqlal‹ können wir nicht abgehen.« – Der Wortlaut dieser kategorischen Erklärung glich auf erstaunliche Weise dem »dialogue de sourds – dem Dialog von Tauben«, in den sich Israeli und Palästinenser seit dem Osloer Abkommen des Jahres 1993 verrannt haben.
    Wer könnte auch innerhalb der Befreiungsfront die Verantwortung, vor allem die Autorität für eine erfolgverheißende Verhandlungsführung aufbringen? Etwa der alte Partei-Routinier Ferhat Abbas, der den offiziellen Vorsitz der ersten algerischen Exilregierung übernahm, den die Militärs der FLN jedoch spöttisch den Befehlshaber der »Wilaya« von Montreux nannten, weil Abbas sich meist zu diplomatischen Kontakten in der Schweiz aufhielt? Manche erinnerten sich noch daran, daß Ferhat Abbas in seiner Jugend einmal den verzweifelten Satz geschrieben hatte: »Ich habe in der Geschichte eine algerische Nation gesucht, und ich habe sie nicht gefunden.«
    Der große Mann der Rebellion, Ahmed Ben Bella, befand sich in französischer Haft. Das Linienflugzeug, das ihn von der marokkanischen Hauptstadt Rabat nach Tunis bringen sollte, war vor einigen Wochen durch Agenten des französischen Geheimdienstes nach Algier umgeleitet worden. Ben Bella wurde dort mit seinen Gefährten unverzüglich festgenommen und nach Frankreich transportiert. Doch seitdem stellte sich bei den Exilanten in Tunis die dringende Frage, wer wirklich den Ton angab in diesem Führungskollektiv, dessen interne Feindschaften nicht nur zwischen Kabylen und Arabern, zwischen Politikern und Militärs aufreibend und mörderisch ausgetragen wurden wie in jeder Sammeldirektion und wie in jeder von außen gesteuerten Widerstandsbewegung. Aus der Sicht des zum Meer offenen Tunis mit seinen geschmeidigen Menschen wirkte der Aufstand der algerischen Hinterwäldler, die vom Raffinement des arabischen Orients kaum einen Hauch verspürten, dafür aber auf den Arbeitsplätzen in Frankreich den Dampf marxistischer Ideologie eingesogen hatten, wie ein Sturm entfesselter Derwische.
    Ineiner Journalistenrunde wurde ich damals von einem Pariser Kollegen, der den üppig süßen Duft einer Jasminblüte einatmete, gefragt: »Kennst du die letzte Geschichte vom Besuch des tunesischen Botschafters Masmoudi bei de Gaulle?« Masmoudi hatte den General in einer persönlichen Audienz gebeten, Ahmed Ben Bella freizugeben. Ben Bella wurde von den verhandlungsbereiten Kreisen in Paris als geeigneter Gesprächspartner angesehen. »Warum soll ich Ben Bella schon entlassen?« soll de Gaulle geantwortet haben. »Es geht ihm nicht schlecht. Er lebt als politischer Häftling unter vergünstigten Bedingungen. Er kann mit seinen algerischen Freunden kommunizieren. Er ist in Sicherheit und behält sein ­Prestige bei seinen Landsleuten. Im übrigen verfügt er über eine reiche Bibliothek und kann endlich etwas für seine Bildung tun.« Der General erinnerte sich wohl daran, daß er den Feldwebel Ben Bella, der im Italien-Feldzug der Franzosen mit großer Bravour gekämpft hatte, persönlich mit einem hohen Tapferkeitsorden ausgezeichnet hatte.

    Unruhe bei den Kabylen
    Â»Algier ist eine ganz
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