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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit
Autoren: Peter Scholl-Latour
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Himmel. »Du wirst es nicht glauben, aber niemand weiß das genau. Gewiß, man kennt die Namen der kommandierenden Generale. Aber wer sich in diesem Knäuel des Argwohns und der Eifersucht durchgesetzt hat, das wird dir niemand zuverlässig beantworten können. Der Sammelbegriff für das oberste Gremium, das weitgehend anonym bleibt, lautet ›le pouvoir‹, und fast jedem ist dieser Zustand unheimlich.«
    Natürlich wendet sich unser Gespräch der »Arabellion« zu. Wie würde sich wohl die Zukunft im benachbarten Tunesien gestalten? Der Anwalt ist nicht frei von der Überheblichkeit, mit der die mei­sten Algerier auf die Tunesier blicken. Im Maghreb geht der Spruch um: Die Tunesier seien die Frauen, die Afghanen die Männer, die Marokkaner die Krieger. »Welch ein Unsinn«, erregt sich Mansur, aber er selbst hätte beileibe nicht damit gerechnet, daß ausgerechnet die freundlichen, nachgiebigen Tunesier das Signal zum gesamt-arabischen Aufstand geben würden, daß bei ihnen die Jasmin-Revolution ihren Ausgang nähme. Er hätte ihnen schon gar nicht zugetraut,daß sie mit ihren Protesten auf dem Boulevard Bourguiba den zu Recht verhaßten Tyrannen Zine el-Abidin Ben Ali mitsamt dem milliardenschweren Trabelsi-Clan seiner Frau Leila zur Flucht nach Saudi-Arabien zwingen würden.
    Daß die Selbstverbrennung des unbekannten Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi in der abgelegenen Ortschaft Sidi Bouzid den Aufstand der Massen auslösen würde, lasse sich wohl nur durch die Nutzung elektronischer Kommunikationsmittel erklären, weshalb man von einer »Facebook-Revolution« rede. Schon würde gemunkelt, daß es sich bei Bouazizi gar nicht um einen Studenten handelte, daß die ständige Demütigung dieses in Armut lebenden jungen Mannes durch die Sicherheitsorgane und zumal durch eine Polizistin, also eine Frau, auf die Spitze getrieben wurde. Im übrigen werde darüber diskutiert, daß der Suizid – soweit er nicht den Zielen des Heiligen Krieges dient – durch den Koran verboten sei. Aber der »Student« Bouazizi wird seitdem als Nationalheld geehrt, und diesen Titel solle man ihm, so meint Mansur, auch nicht streitig machen. Diesem »Märtyrer« sei sogar ein Denkmal errichtet worden. Entscheidend für den Erfolg der tunesischen Auflehnung sei die Zurückhaltung der von Ben Ali vernachlässigten Armee gewesen, die insgeheim mit den Demonstranten sympathisierte. Ihr Generalstabschef Rashid Ammar, der sich weigerte, auf die Rebellen schießen zu lassen, wurde umgehend entlassen. Als zusätzlichen Grund für die plötzliche Explosion des Volkszorns wurde das Ansteigen der Lebensmittelpreise sowie die miserable Situation der Jugendlichen angeführt, die fast die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen und sich um jede Zukunftsperspektive betrogen fühlen.
    Ganz froh kann Mansur mit dem Ablauf der Ereignisse in Tunis nicht werden. Da habe eine Massenbewegung zwar ihre schlimm­sten Ausbeuter, ihre Kleptokraten davongejagt; die Ben Ali er­gebene Regierungspartei »Konstitutionelle Demokratische Sammlung« sei aufgelöst, aber die wirtschaftlichen Probleme hätten sich drastisch verschärft, seit der Touristenstrom versiegt sei. Als Habib Bourguiba, der sich den anmaßenden Titel »Mujahid el akbar« zugelegt hatte, nach seinen langen Auseinandersetzungen mit den Franzosendie Unabhängigkeit von Pierre Mendès-France ohne Blutvergießen konzediert wurde, konnten dessen Herrschaftsallüren von seinen Landsleuten noch akzeptiert werden, mußte doch das frühere Protektorat, wenn auch mit autoritären Maßnahmen, neu strukturiert werden. Erst als Bourguiba einem senilen Machtwahn verfiel, sei die Bevormundung durch diesen Vater der Freiheit unerträglich geworden.
    Aber jetzt hätten die Tunesier den Zugang zur Demokratie gefunden, fährt Mansur fort, nach Ausschaltung des Tyrannen Ben Ali stehe das Volk jedoch ratlos vor dem politischen Vakuum. »Es gibt keine organisierten Parteien, es gibt kein Regierungsprogramm, und vor allem fehlt es an charismatischen Führungspersönlichkeiten, auf die in Zeiten des Umbruchs die Araber nicht verzichten können.« Es sei ein bedenkliches Zeichen, daß der Exodus von Jugendlichen, die auf gebrechlichen Barken und unter Lebensgefahr die italienische Insel Lampedusa ansteuern, um dann nach Frankreich zu
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