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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit
Autoren: Peter Scholl-Latour
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weiße Stadt«, hatte Georges Duroy, jener Gelegenheitsjournalist, der als »Bel Ami« in die Literatur eingegangen ist, in der Novelle Maupassants mühsam zu Papier gebracht, als er mit Hilfe einer Mätresse seine Nordafrika-Erlebnisse in einer Reportage zusammenfassen wollte. Die heutige Hauptstadt hat nach Jahrzehnten der Verwahrlosung, die unmittelbar nach der Unabhängigkeit stattfand, einen Teil dieses hellen Scheins zurückgewonnen mit Ausnahme der malerischen, dumpfen »Kasbah«, die nur mit äußerster Mühe als »Kulturerbe der Menschheit« restauriert werden könnte. Wenn Algier wieder weiß geworden ist, so ist das teilweise der Tünchung der Mauern in den ehemaligen euro­päischenVierteln zu verdanken, im wesentlichen jedoch dem Entstehen völlig neuer Wohnkasernen, die von chinesischen Arbeitern in Rekordzeit erstellt werden. Diese Neubauten gleichen »en miniature« den gewaltigen Appartement-Blocks, wie sie in den Metropolen des Reiches der Mitte aus dem Boden geschossen sind.
    45000 Chinesen sollen in Algerien tätig sein. Ihnen ist neben einer Vielzahl von Infrastrukturprojekten der Bau der endlosen Autobahn zu verdanken, die sich von der marokkanischen bis zur tunesischen Grenze hinzieht. »Diese Chinesen arbeiten wie Ameisen«, verwundern sich die jungen Algerier, die schätzungsweise zu dreißig Prozent ohne Job sind. Statt selbst Hand anzulegen, sieht man sie reihenweise an den Hauswänden lehnen. »Ils soutiennent les murs – Sie stützen die Mauern ab«, spotteten einst die »pieds noirs«, die Algier-Franzosen, über diese Form des Müßiggangs. Dabei schweifen die Blicke der jungen »Chômeurs« heute sehnsuchtsvoll über das Mittelmeer in Richtung auf die alte Metropole Frankreich, wo sie bei ihren naturalisierten Familien unterkommen könnten und sehr bald in den Genuß der großzügigen französischen Sozialgesetzgebung kämen.
    Den Fahrer Raschid und den komfortablen Peugeot habe ich im Hotel angemietet. Ich hege keinen Zweifel, daß Raschid mich im Beobachtungsauftrag irgendeines Sicherheitsdienstes begleitet, aber der stämmige Araber wirkt zuverlässig, und irgendwie muß er ja seinen Unterhalt verdienen. Zudem spricht er fließend Französisch, wie übrigens die Mehrzahl der städtischen Algerier sich mit dem Hocharabischen schwerer tut als mit der Sprache Corneilles. Als Ausflugsziel gebe ich das Küstenstädtchen Tipasa an. Wir legen die hundert Kilometer Strecke zügig zurück trotz der zahlreichen Kontrollposten von Militär und Gendarmen. Die Sperren geben davon Kunde, daß der Aufstand der GIA und der »Salafistischen Front für Predigt und Jihad«, die sich neuerdings den reißerischen Namen »El Qaida des islamischen Maghreb« zugelegt hat, noch nicht ausgemerzt ist, ja mit vermehrten Überfällen von sich reden macht. Auch in Algerien kommt es gelegentlich zu Protestkundgebungen, aber wenn eine Gruppe von dreißig Regime-Kritikern sich zusammenrottet,so heißt es, seien gleich dreitausend bewaffnete Ordnungshüter zur Stelle, um den Spuk auseinanderzutreiben.
    Mit dem idyllischen Strand von Tipasa verbindet mich ein Gefühl der Nostalgie. Im Sommer 1953 hatte ich dort im Kreis von Freunden gegrillte Krabben und Rotwein genossen, bevor wir in das strahlend blaue Meer eintauchten. Jetzt hat sich der einheimische Massentourismus dieser lieblichen Bucht bemächtigt. In der Nachbarschaft sind scheußliche Mietskasernen entstanden. Sie werden von der silbern glänzenden Blechkuppel einer riesigen ­Moschee überragt. In ausgedehnten Gärten, die zum Meer führen, bewegen sich lärmende Schulklassen, Jungen und Mädchen, unter der Aufsicht ihrer Lehrer.
    Was wird ihnen wohl erzählt von der Größe des Römischen und des Byzantinischen Reiches, die sich hier mit ihren eindrucksvollen Ruinen verewigt haben? Das Amphitheater ist noch intakt, und auf dem ehemaligen Forum ragen Säulenstümpfe. Vor allem aber das Christentum hat seine Spuren hinterlassen mit den Särgen seiner Bischöfe und den Grundmauern einer wuchtigen Kathedrale. Wer denkt im heutigen Algerien daran, daß der Kirchenvater Augustinus, ein gebürtiger Kabyle, in der östlich gelegenen Hafenstadt Annaba, die bei den Franzosen Bône und zur Zeit der Römer Hippo Regius hieß, als Bischof waltete. Am algerischen Strand war
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