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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit
Autoren: Peter Scholl-Latour
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gelangen, stark angestiegen sei. Dabei verfügten sie jetzt doch über ein Staatswesen, das zur Würde und Selbstbestimmung seiner Bürger zurückgefunden habe, beendet Mansur seinen Monolog.
    In mein Zimmer zurückgekehrt, lese ich in der Zeitschrift Jeune Afrique die Warnung, die der ehemalige Minister Bourguibas Ahmed Mestiri, ein angesehener Oppositionspolitiker, an seine Landsleute richtet. Mestiri hatte sich nach der Machtergreifung Ben Alis jeder politischen Aktivität enthalten. Nun tritt der erfahrene Jurist als Kritiker der neuen provisorischen Regierungsmannschaft an die Öffentlichkeit. Vor allem den Premierminister Béji Caïd Essebsi verdächtigt er, ohne Berufung durch das Volk eine sehr eigenwillige Regentschaft auszuüben, die in die Fehler der Vergangenheit zurückzufallen drohe. Er beklagt die Bildung von zwielichtigen Banden, die sich ein ideologisches Mäntelchen umhängen. Bei den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung, zu der Dutzende von neu gegründeten Parteien ihre Kandidatur angemeldet haben, dürfe niemand ausgeschlossen werden, so argumentiert Mestiri, ­weder die Islamisten der »En Nahda«-Bewegung noch jene Anhängerder bisherigen Regierungspartei RCD, die sich keiner Übergriffe schuldig gemacht hätten.
    Im Alter von 87 Jahren dürfte Mestiri keine Illusion hegen, bei der Neugestaltung Tunesiens eine maßgebliche Rolle zu spielen. Doch bei seinen Sondierungsgesprächen, die er im ganzen Land führte, ist er zu der Erkenntnis gelangt, daß die Jasmin-Revolution längst nicht den Abgrund überwunden hat, der weiterhin klafft zwischen der städtischen Schicht von Intellektuellen mit ihren sterilen Debatten und dem »pays profond«, dem tiefen Lebensgefühl der kleinen Leute fern von den Tumulten der Hauptstadt.
    Die tunesische Etappe
    Man mag mir vorwerfen, daß ich meinen Blick intensiver auf die Vergangenheit als auf die Zukunft richte. Aber wie anders lassen sich die Konvulsionen der arabischen Welt deuten, die Amerika und Europa mit voller Wucht aus ihrer Lethargie rissen. Ich drehe die Zeit auf den August 1958 zurück. Seit vier Jahren befand sich Algerien im Zustand des bewaffneten Aufstandes gegen Frankreich. Als ich in einer französischen Offiziersrunde meine Absicht kundtat, in den kommenden Tagen von Bône nach Tunis zu fliegen, wurde ich eigenartig gemustert. »Sie gehen also zum Feind«, schien jeder Blick zu sagen. In Tunis hatte nämlich die »Nationale Befreiungsfront Algeriens« ihr Hauptquartier aufgeschlagen.
    Aus dem Bullauge der DC 4 versuchte ich krampfhaft, dort unten in der Gegend von Soukh Ahras in den grau-grünen Kork­eichen-Wäldern eine Kampftätigkeit auszumachen. Im Vorfeld der fran­zösischen Morice-Linie waren Lager der »Fellaghas« – wie die Franzosen die Aufständischen nannten – dicht an die französischen Außenposten herangeschoben. Aber die hölzernen Wachtürme um den Flugplatz von Bône mit ihren Scheinwerfern und Maschinengewehren blieben die letzte kriegerische Vision. Die Natur hatte keineTrennungslinie zwischen Algerien und Tunesien gezogen. Die weißen Schaumkronen des Meeres pulsierten ohne Unterbrechung am sandigen Küstenstrand.
    Dann landete die Maschine in Tunis, und auf einmal war der Druck fortgenommen. Man hatte sich so daran gewöhnt, die schußbereiten Posten neben jedem Flugzeug stehen, die Rollfelder von Drahtverhau und Mirador-Ketten eingezäunt zu sehen, daß die Nonchalance des tunesischen Personals, die Stille des Abends verwirrten. Der Frieden kam wie ein Schock.
    An lila blühenden Hecken vorbei war der Bus nach Tunis eingefahren. Durch die feierlichen Palmenwedel drang der Gestank der Abwässer des Chalk-el-Wadi. Am breiten, baumbestandenen Boulevard Bourguiba warteten die kleinen Renault-Taxis – rot und weiß lackiert – in langer Reihe. Dennoch hatte sich einiges geändert in Tunis seit meinem letzten Besuch im Herbst 1953. Neben jede französische Reklame schmiegten sich jetzt die Schnörkel der ara­bischen Schrift. Auf den Café-Terrassen der Innenstadt vor den ­italienischen Pizzerias saßen überwiegend tunesische Gäste. Die jungen Araber waren in die kleidsame weiße Gandura gehüllt, um deren Frische man sie beneidete und in die sie sich wie in eine römische Toga zu drapieren verstanden. In dem maltesischen
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