Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit
Autoren: Peter Scholl-Latour
Vom Netzwerk:
die ihr Ansehen bei der Bevölkerung ihrer humanitären Tätigkeit, ihrer Speisung der Armen verdankte und bislang keinen einzigen Terrorakt verübt hatte, entwickelte sich im Laufe der militärischen Repression eine resolute Kampfgruppe, »Groupes islamiques armés« oder GIA Diese Mujahidin versuchten mit Waffengewalt den eisernen Griff der Führungsclique aus Generalen und Obristen abzuschütteln, der das Land praktisch seit seiner Unabhängigkeit umklammerte. Der Bürgerkrieg, der sich fast eine Dekade hinzog, wurde von beiden Seiten mit extremer Grausamkeit geführt. Die Zahl der Opfer stieg auf etwa zweihunderttausend Menschen. Am Ende obsiegte die mit modern­sten Waffen ausgerüstete Armee. Diese Epoche der maßlosen Gewalt hat sich tief in das Bewußtsein der algerischen Masse eingebrannt.
    WennAlgerien in dieser Stunde des arabischen Aufbruchs nicht explodiere, so beantwortete schon der Taxifahrer am Flugplatz meine Frage nach der relativen Ruhe, die zwischen Constantine und Oran vorherrscht, so läge das an der Befürchtung der Bevölkerung, das grauenhafte Gemetzel könne von neuem beginnen. An diese schreckliche Zeit erinnert der schöne Film »Von Göttern und Menschen«, den ich mir kurz zuvor in Paris angesehen hatte. Es handelte sich um ein Dutzend französischer Mönche, die in dem Dorf Tibérine trotz aller Gefahren ausharrten. Den Patres ging es beileibe nicht um eine Bekehrung ihrer muslimischen Nachbarn zum Christentum, sondern um ein Leben in abgeschiedener Frömmigkeit. Bei den dortigen Berbern, denen sie in Dingen des Alltags und bei der medizinischen Betreuung zu Hilfe kamen, deren Feste sie brüderlich mitfeierten, waren die Trappisten hoch angesehen.
    Um die Weihnachtszeit tauchte eine Partisanengruppe der GIA bei ihnen auf. Deren bedrohliche Haltung änderte sich, als der Prior, der Arabisch sprach und den Koran studiert hatte, jenen Vers Mohammeds vortrug, in dem er die Gerechtigkeit christlicher Priester und Mönche lobte. Der Führer der Rebellen verzichtete daraufhin auf jede Feindseligkeit, entschuldigte sich, die in Armut lebenden Jünger Christi bei ihrem Gebet gestört zu haben, und wünschte ihnen sogar ein gesegnetes Weihnachtsfest. Ganz anders verhielt sich eine andere bewaffnete Gruppe, die die Mönche im eisigen Nebel des Atlas-Winters in den rauhen Wald entführte und sie dort erschoß. Diese zweite Gruppe gehörte, wie der französische Nachrichtendienst herausfand, einer regierungstreuen Miliz an, die auf der Jagd nach Widerstandskämpfern war und den Mord der Ordensleute in den Augen der Öffentlichkeit als barbarischen Akt islamischer Fanatiker darstellen wollte. »L’Algérie est un pays opaque – Algerien ist ein undurchsichtiges Land«, diese Feststellung der französischen Kolonialverwaltung von einst bleibt bis auf den heutigen Tag gültig.
    Ich habe mich, wie bei meinen früheren Aufenthalten, im Hotel »El Jazair« einquartiert, das zu seinem früheren Namen »Saint Georges« zurückgefunden hat. Mit Befriedigung stelle ich fest, daß diesesehemalige Palais im Stil des spät-osmanischen Reiches re­stauriert wurde. Die Terrasse ragt mit ihrer Blumenpracht wie ein schwebender Garten über die sich ständig ausweitende Hauptstadt und das reglose blau-graue Meer. Ich mustere die ausschließlich ­algerischen Gäste. Sie gehören der privilegierten Oberschicht an, aber protzen nicht mit ihrem oft durch dubiose Geschäfte erworbenen Reichtum. Die Frauen tragen längst nicht alle ein Kopftuch. Die Mädchen lassen ihr üppiges Haar wallen. Die Gespräche der Männer, die europäisch gekleidet sind, werden halblaut geführt, wirken stets konspirativ. Im »Saint Georges« wird weiterhin Alkohol serviert.
    Bilder aus der Vergangenheit tauchen auf. Vor einem halben Jahrhundert hatte an dieser Stelle der ehemalige französische Président du Conseil Georges Bidault die unbelehrbaren Anhänger der »Algérie française« um sich geschart, die das Mutterland, »la mère patrie«, von Dünkirchen in Flandern bis Tamanrasset im Herzen der Sahara ausweiten wollten. Am Nachmittag hatte Charles de Gaulle, dessen Absicht, Algerien in die Unabhängigkeit zu entlassen, inzwischen publik wurde, die Elite seiner Generale und Obersten in den Sommerpalast des Generalgouverneurs beordert. Sie kamen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher