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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit
Autoren: Peter Scholl-Latour
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– die Schultern rollend und selbstbewußt – in ihren Tarnuniformen mit aufgekrempelten Ärmeln, die Brust voller Orden. Ihnen gegenüber stand vor den maurischen Kacheln des großen Salons der einsame Mann im schlichten Khaki-Tuch des Brigadiers. Er war lediglich mit dem Lothringer Kreuz dekoriert. Aber er beherrschte alle Anwesenden mit der Höhe seines Wuchses und einer eiskalten Autorität, die Furcht einflößte. De Gaulle redete nur kurz zu den Offizieren der Algerien-Armee. Sie waren nicht zu einer politischen Aussprache, sondern zum Befehlsempfang gekommen. Nach der gebieterischen Audienz versammelten sie sich diskutierend im ­Palmengarten. Die Journalisten aus aller Welt beobachteten den verärgerten Gesichtsausdruck der hohen Offiziere. Als sie sich zum Gehen anschickten, sagte ein Amerikaner ohne jede Häme: »Here goes the Glory of France.«
    Aus diesen fernen Reminiszenzen werde ich durch die Ankunft Mansurs, eines alten Freundes, herausgerissen. Er trifft pünktlich ein, während die Dämmerung mit einer für die Jahreszeit ungewöhnlichen Kühle hereinbricht. Wir hatten uns vor etwa zwanzig Jahren kennengelernt. Mansur war damals ein junger Anwalt, der eine Reihe mutmaßlicher Terroristen verteidigte und mir Zugang zu dem eifernden Prediger Ali Belhaj verschaffte. Trotz seiner intensiven französischen Erziehung hatte er mit der »Heilsfront« sympathisiert und war vorübergehend verhaftet worden. Nach seiner Entlassung ließ er sich in Tunis nieder, von wo er nach der offiziellen Versöhnungspolitik des Präsidenten Bouteflika in seine Heimat zurückkehrte.
    Den Bart, den er damals trug – man nannte die Islamisten »les barbus« –, hat er abrasiert. »Man soll die Sicherheitsdienste nicht herausfordern«, sagt er lächelnd. Abdelaziz Bouteflika, ein Veteran des Befreiungskampfes gegen die Franzosen, verfüge nur über sehr begrenzten Einfluß und sei schwer krank. Algerien lebe weiter im Zugriff dreier mächtiger Gruppen: der Offizierskamarilla, die schon zwei Jahre nach der Unabhängigkeit den Staatschef Ben Bella gestürzt hatte, der Geheimdienste, die große Furcht einflößten, und der nationalisierten Petroleumgesellschaft Sonatrach, ohne deren Einnahmen der Staat längst bankrott wäre. »Immerhin haben wir in den letzten Jahren gewußt, wer innerhalb dieser disparaten Führungsclique den Ton angab«, meint Mansur. Nachdem Ben Bella eingekerkert worden war, hatte der frühere Kommandeur der Grenzarmee, Oberst Houari Boumedienne, seine mißtrauische, unerbittliche Autorität durchgesetzt. Seine Gegner bezeichneten diesen Mann, der nie lächelte, keine Vertrautheit aufkommen ließ und meist in einem wallenden, schwarzen Mantel auftrat, als den »Dracula des Atlas«. Nach seinem Tod wurde General Shedli Ben Jedid kooptiert, dem seine Rivalen sehr bald mangelnde Energie vorwarfen und ihn sogar verdächtigten, einen Kompromiß mit der Islamischen Heilsfront anzustreben.
    In einer stürmischen Sitzung soll dem silberhaarigen Staatschef der Revolver an die Schläfe gesetzt worden sein, um ihn zum Rücktritt zu zwingen. In der Machtvakanz, die jetzt eintrat, entsann man sicheines Außenseiters, der gemeinsam mit Ahmed Ben Bella zu den ersten Verschwörern der »Organisation secrète« gezählt hatte, als diese am Allerheiligen-Tag 1954 gegen die Franzosen losschlug. Mohammed Boudiaf hatte sich in Marokko eine zivile Existenz aufgebaut. Der für seine rauhe Ehrlichkeit bekannte Kämpfer der er­sten Stunde wurde durch seine Berufung zum Präsidenten völlig überrascht. Als er ein Minimum an Redlichkeit in der Verwaltung des Landes anforderte, die Korruption in der Einheitspartei FLN anprangerte, gegen die Bestechlichkeit hoher Offiziere anging und die krakenähnliche Unterwelt des Schwarzmarktes – im Volksmund »Trabendo« genannt – ausschalten wollte, war sein Schicksal besiegelt. Selbst die gegängelte algerische Presse berichtete damals in allen Einzelheiten, wie der redliche Staatschef Boudiaf, während er im »Haus der Kultur« von Annaba eine Rede hielt, nicht etwa von einem fanatischen Jihadisten, sondern vom eigenen Leibwächter erschossen wurde.
    Â»Und wer übt heute in Algier die wirkliche Macht aus, wer trifft die wichtigsten Entscheidungen?« frage ich. Mansur hebt die Arme zum
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