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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit
Autoren: Peter Scholl-Latour
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der heilige Augustinus rastlos auf und ab gewandert, in dem verzweifelten Versuch, das Geheimnis der Dreifaltigkeit zu ergründen.
    In den frühen neunziger Jahren – der grausame Bruderkrieg gegen die revoltierenden Islamisten war bereits im Gange – war ich im Restaurant »Romana« mit einem algerischen Arzt ins Gespräch gekommen. Er äußerte sich mit erstaunlicher Offenheit, was vielleicht eine Folge des reichlich konsumierten Rotweins war. Als ich ihn auf die Ähnlichkeit dieser nordafrikanischen Küstenlandschaft mit gewissen Gegenden Siziliens verwies, antwortete der Arzt mit einem bitteren Lachen. »Sie wissen gar nicht, wie recht Sie haben«, bemerkte er. »Wir haben vor allem im öffentlichen Leben sizilianische Verhältnisse, seit hier die Mafia in Politik und Wirtschaft den Ton angibt.« Der Arzt bedauerte die Entwicklung zutiefst.
    DieBevölkerung wirke jetzt völlig verstört und verstockt. »Mein Verhältnis zu den Islamisten ist gespalten«, fuhr er fort. »Wie Sie merken, bin ich von der Erziehung her durchaus westlich ausgerichtet. Ich habe sogar ein paar Studienjahre in Montpellier zugebracht. Aber die Situation hier ist so verfahren, daß mir ein revolutionärer Umbruch – selbst wenn er im Zeichen Allahs und seines Propheten vollzogen würde – beinahe wünschenswert erscheint. Algerien befindet sich in einer Sackgasse. Die islamische Revolution ist vielleicht die unentbehrliche Katharsis, die Läuterung im alten griechischen Sinne, um zu neuen Lebensformen und hoffnungsvollen Perspektiven zu gelangen. Ich mache mir dennoch keine Illusionen. Die Einheit von Religion und Staat, die Wiedererweckung des idealen Gottesstaates, wie ihn der Prophet und seine Gefährten in Medina vorlebten, ist wohl ein Irrweg und wird mit ziemlicher Gewißheit ebensowenig menschheitserlösend wirken wie die so spektakulär gescheiterten Heilsversprechen des Marxismus-Leninismus. Aber wenn wir auf die jungen Leute meiner Heimat blicken, auf diese Masse von Verbitterung und Verzweiflung, dann meine ich manchmal, daß wir die Probe aufs Exempel machen sollten. Man muß die politische Utopie ausleben, um sie eventuell überwinden zu können.«
    *
    Von meinem Fahrer Raschid kann ich im Mai 2011 keine solche Regimekritik erwarten. Wider Erwarten ist er bereit, bei der Rückfahrt nach Algier die Inland-Straße durch die Mitidja einzuschlagen. Diese einst sumpfige, versteppte Gegend war von den französischen Kolonisten in ein blühendes Paradies verwandelt worden. Die Fahrt stimmt mich melancholisch. Nach der Unabhängigkeit und Kollektivierung waren diese fruchtbaren Gärten zu öden Di­stelfeldern verkommen. Aber seit meinem letzten Aufenthalt in ­dieser Region hat man mit dem Anbau von Zitrusplantagen begonnen. Die katholischen Kirchen sind verrammelt und verlassen, wenn sie nicht abgerissen wurden. Statt dessen ragen überall die Minaretteund Kuppeln der Moscheen über flachen Dächern empor. Viele von ihnen sind noch im Bau. Leider zeugen diese Gebetsstätten des islamischen Kults von architektonischer Einfalls­losigkeit.
    Ob ich nicht einen Abstecher zu jenem pyramidenförmigen, dichtbewaldeten Hügel machen wolle, den man – aus welchem Grund auch immer – »le tombeau de la Chrétienne«, das »Grab der Christin«, nennt. Man täte besser daran, hatte mir ein alteingesessener »Pied Noir« gesagt, von einem »tombeau de la Chrétienté, einem Grab des Christentums«, zu sprechen. Immerhin haben die Behörden der unabhängigen Republik die hoch über die Hauptstadt aufragende Basilika mit dem mächtigen Kreuz über der Kuppel restaurieren lassen. »Notre Dame d’Afrique« heißt dieses massive Bauwerk, dessen Erhalt religiöse Toleranz andeuten soll.
    Auf unserer Rückfahrt nach Algier passieren wir die Stadt Blida. Hier sind die Islamisten mit ihren »Zawiya«, ihren verschwiegenen Bruderschaften, stets stark vertreten gewesen. Der algerische Generalstab hat an dieser Stelle auch seine Interventionskräfte konzentriert, falls Algier in den Sog der »Arabellion« geriete. Raschid geniert sich nicht, die diversen Kasernen und Stützpunkte von Armee und Gendarmerie aufzuzählen wie auch auf das streng abgeschirmte Gelände des Militärtribunals zu verweisen.
    Zwei Tage später frage ich ihn, ob er mich in
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