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Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe
Autoren: Michael Tietz
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werden ließen. Dicht an dicht stehende Baumwipfel verbargen die Welt, die er beim Besteigen des Turmes verließ, den Weg aber, der von dem Flüsschen, der Steina, kommend zur Roggenbacher Ruine hinaufführte, den ließen sie frei. Es gab keinen zweiten oder dritten Pfad herauf, nur diesen einen Lindwurm, der sich bis zum Burghof schlängelte, und eben diesen Lindwurm behielt Alex bei seinem Spiel im Blick.
    Alex saß ganz oben auf dem kleineren der beiden Turmfinger. Turmfinger, ja, genau so sahen sie aus, wie zwei Finger aus Stein, die ein Riese – aus der Zeit, als es noch Riesen gab – hier vergessen hatte. Vielleicht ein Kampf. Vielleicht ein Unfall. Manchmal hielt Alex am Abend in seinem Bett eine Faust vor die nur sehr selten zum Lesen genutzte Leselampe, streckte Zeige- und kleinen Finger nach oben und schon erschien an der Wand die Silhouette der Burgruine. Er selbst verwandelte sich in einen Ritter, in einen Mann, dem die Welt zu Füßen lag und über dessen Heldentaten man an allen Enden seines Reiches sprach. Sogar Lieder sangen sie auf ihn und ein mächtiges, in Leder gebundenes Buch existierte, in dem es einzig und allein um ihn, Ritter Alex, und seine Heldentaten ging. Manchmal wunderte er sich während dieser Tagträume über sich selbst: hier auf der Ruine oder auch abends im Bett, da konnte er sich alles Mögliche vorstellen und es sich dann auch noch merken. Wenn aber Seidel, Alex’ Mathelehrer, seinen Schüler bat, sich eine Zahl mit neun Nullen vorzustellen, dann kam mit einem Schlag die große Dunkelheit . Große Dunkelheit, so nannte Alex diese Momente der vollkommenen Leere, Augenblicke, die es allerdings nur im Klassenzimmer gab, mit nach draußen kamen sie nie. Sie gehörten in die Schule, hier auf der Burg hatten sie nichts zu suchen und das wussten sie ganz offensichtlich auch.
    In diesen Stunden, in denen Alex sich in einen Ritter verwandelte, existierten weder Eltern noch eine kleine Schwester (wenn doch, dann höchstens von einem Drachen entführt), es gab keine Schule. Gut, Letztere existierte im Augenblick tatsächlich nicht – große Ferien –, trotzdem hing diese Drohung immer irgendwie über ihm und warf einen viel zu breiten Schatten. Alex aber spielte tunlichst um diesen Schatten herum.
    Die großen Sommerferien hatten gerade erst begonnen, dennoch dachte er, wie er fand, viel zu oft an den kommenden September und damit an den Beginn der siebten Klasse, oder besser: den erneuten Beginn dieser siebten Klasse. Ehrenrunde hatte Vater nur gesagt und dabei wohl an seine eigene Ehrenrunde gedacht, was ihn aber nicht daran gehindert hatte, seinen Großen zu Nachhilfeunterricht zu verdonnern, den freilich nicht er geben konnte, nein, dafür bezahlte er einen Gymnasiasten. Alex’ Vater hatte am Tag, als er selbst sein alles andere als sehenswertes Abschlusszeugnis in die Hand gedrückt bekommen hatte, mit allem abgeschlossen, was irgendwie nach Schule roch und – alles wiederholt sich irgendwie und irgendwann – heute sehnte sein Sohn diesen Tag herbei. Aber dieser Typ aus Bonndorf, ein Zwölftklässler, der sich mit Nachhilfe das Taschengeld aufbesserte, befand sich zurzeit mit Mama und Papa irgendwo auf einem Campingplatz in Spanien. Welcher Zwölftklässler ging in diesem Alter noch mit seinen Eltern zelten?! Für Alex stand fest, dass der Typ somit nicht ganz rundlief, einen Zacken ab hatte, in seinem Schrank ein paar Tassen fehlten. Aber sollte er doch zwischen seiner Mama und seinem Papa im Zelt liegen – jeder Tag, den dieser Kerl in Spanien verbrachte, bedeutete Freiheit. Alex konnte nach dem Frühstück in aller Ruhe verschwinden und mit dem ganzen langen Tag anstellen was er wollte, vor dem Abendessen wartete sowieso keiner auf ihn. Und wenn dann auch noch wie heute die Sonne auf Alex’ Rücken schien und Leni, Alex’ fünfjährige Schwester, einmal nicht an seinem Hosenbein hing, vergaß er für ein paar Stunden Schule und Ehrenrunde und Nachhilfe, ging von Wittlekofen hinunter zum Wanderparkplatz an der Steina und weiter zu seiner Burg. Mit diesem gut drei Kilometer messenden Sicherheitsabstand zu Dorf, Eltern und Schwester kletterte Alex auf seinen Zeigefingerturm, holte die kleinen Plastikritter aus den Hosentaschen und stellte sie auf den Rand der Mauer. Klar, er wusste, dass ein fast Vierzehnjähriger eigentlich anderes tun sollte als zu spielen, aber es machte eben Spaß. Außerdem wusste es ja keiner, abgesehen von Leni, aber die hielt die Klappe. Ganz
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