Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe
Autoren: Michael Tietz
Vom Netzwerk:
sicher.
    Die Burg betrat Alex immer allein und während seine Ritter auf mächtigen Streitrössern Turniere kämpften, Drachen erschlugen und die Mauern gegen Angreifer von der Steinegg verteidigten, behielt der Junge den Lindwurmweg zur Ruine im Blick.
    Auf Burg Steinegg, einer zweiten Ruine, deren Turmrest Alex auf dem Nachbarhügel durch das Blätterdach ragen sah, lebte in der Welt des Kindes eine Horde Raubritter – Gestalten von der übelsten Sorte, die jede sich bietende Gelegenheit beim Schopfe packten, um zu morden, zu plündern und die wieder und wieder gegen die Herren von Roggenbach anrannten. Alex aber verteidigte sein Reich, er verteidigte es gegen die Steinegger und er verteidigte es auch gegen den Rest der Welt. Keiner musste wissen, dass er hier oben saß und mit Plastikfiguren spielte, keiner musste das von seiner Zunge imitierte Hufgetrappel hören und auch nicht die mit verstellter Stimme gesprochenen Dialoge zwischen den Rittern. Nein, das hier ging keinen was an, nicht Max, Alex’ besten Freund, und schon gar nicht solche Kinder wie Rufus, Kasimir oder den kleinen Timi. Mit denen konnte man vielleicht Fußball spielen, Kasi gerne auch mal einen Tag gefesselt am Baum stehen lassen, aber hier, auf seiner Burg, da hatte keiner von ihnen etwas zu suchen. Die Roggenbacher Ruine gehörte einzig und allein Alexander, dem Ritter, dem Helden.
    Alex nahm sein Handy aus der Tasche. Der Bildschirmschoner imitierte eine alte Bahnhofsuhr mit schwarzen Zeigern. Von dieser Uhr wanderte Alex’ Blick zur Sonne. Beide – Sonne und Uhr – übten sich wieder einmal in trauter Einigkeit. Während die Sonne nur noch wenig mehr als eine Handbreit über den Baumwipfeln stand und lange Schatten unten auf dem Weg lagen, rückte der kleine Zeiger seiner Bahnhofsuhr viel zu schnell voran, die Sieben im Blick und durch nichts davon abzubringen, dieses Ziel auch in der nächsten Viertelstunde zu erreichen, am wenigsten durch Alex. Gut, man könnte diese blöden Zeiger einfach ignorieren, aber – Alex schüttelte den Kopf – eine Sache zu ignorieren bedeutete noch lange nicht, dass diese Sache nicht länger existierte. Das ging in der Fantasie vielleicht, aber im richtigen Leben funktionierte das eben nicht, er hatte es mehr als einmal ausprobiert. Man konnte die Zeit ignorieren, dann gab es aber kein Abendessen und der Fernseher blieb auch aus. Alex konnte das Holzholen ignorieren, das aber führte zu einem kalten Haus, einer schreienden Mutter und einem kopfnussverteilenden Vater. Und Holz musste er danach trotzdem ins Haus schleppen. Man konnte auch die bevorstehenden Tests ignorieren – und die siebte Klasse wiederholen. Alles Scheiße.
    Mit einem extrem riskanten Manöver wehrte Alex noch schnell den Angriff der Steinegger Raubritter ab, sammelte anschließend die Plastikfiguren ein und stieg von seinem Turm.
    Vor ein paar Jahren hatte ein Verein neben dem Turm eine Wendeltreppe aus Beton errichtet und so den Zugang zu diesem erst ermöglicht. Die Treppe überbrückte den unteren Teil des Turmes, ab der Hälfte konnte man Originalstufen benutzen. Gott allein wusste, warum sie diese Betonspirale errichtet hatten; sollte beim Bau die Aussicht auf künftige Touristenscharen eine Rolle gespielt haben, dürfte die Sache gründlich in die Hose gegangen sein, vermutete Alex, denn außer ihm besuchte kaum ein Mensch diesen vergessenen Ort. Oder gab es diese Treppe einzig und allein wegen ihm, damit er hinaufsteigen konnte, damit für ihn ein Platz existierte, an dem er allein sein und spielen durfte? Damit er bis zum Weckruf der Zeiger Ritter sein konnte?
    Alex rannte die Treppe hinunter, sprang wie immer zwei Meter, bevor er die sogenannte reale Welt erreicht hatte, übers Geländer, landete und rollte sich ab. Denn wenn Alex die Mauerreste verließ, kam Svoros, der siebenköpfige Drache, aus seiner Höhle und nahm die Burg für sich in Besitz. Am Tag gehörte sie Alex, nachts Svoros. Svoros jagte dem Ritter im Tiefflug hinterher und spie Feuer aus sieben Köpfen. Hatte Alex aber erst einmal die Magie des Burghofes erreicht, nützten dem Drachen weder Feuer noch Krallen etwas. Der aus Kristallen, Gold und Diamanten bestehende Hof beschützte jeden ehrlichen Ritter und der Drache wiederum beschützte bei Dunkelheit diesen Schatz vor den Steineggern und deren Gier. Hatte Alex wie jetzt den Hof in letzter Sekunde erreicht, drehte Svoros ab, flatterte über Turmfinger und Baumwipfel davon und verkroch sich, bevor ihn ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher