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Anwältin der Engel

Titel: Anwältin der Engel
Autoren: Mary Stanton
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Herbst wartete Savannah mit einer anderen, ganz eigenen Schönheit auf. Silbergraue Bartflechten hingen wie Girlanden anmutig von den Ästen und Zweigen der Eichen. Buchsbaum- und Bougainvilleahecken prangten in allen Schattierungen von Grün. Wenn man die grässlichen, aus den Gräbern aufsteigenden Gerüche ignorierte, war es ein wundervolles Fleckchen Erde. Bree atmete vorsichtig ein. In den feuchten, erdigen Geruch mischte sich ein zwar nur leichter, dafür aber äußerst scheußlicher Verwesungsgestank. Sie kniff die Augen zusammen und spähte in Richtung Magnolienbaum. Bildete sie es sich nur ein oder hing da tatsächlich ein schwacher giftgelber Rauchschleier in der Luft?
    Nein. Sie würde sich nichts einreden und sich jetzt nicht selbst nervös machen. Voller Entschiedenheit schüttelte Bree den Kopf, stieg die Stufen aus morschem Ziegelstein hinauf und öffnete die Haustür.
    »Juhu!«, rief Ron. »Haben Sie von unterwegs Pralinen mitgebracht oder nicht?«
    »Hab ich nicht«, erwiderte Bree. Sie stand in der Eingangshalle, Rons Schreibtisch aber befand sich außer Sicht im Wohnzimmer, im rechten Winkel zum Kamin. Er brauchte sie gar nicht zu sehen, um zu wissen, wer da hereingekommen war. Er wusste es einfach … und zwar immer.
    Sie stellte ihre Aktentasche auf die unterste Stufe der Treppe, die in den ersten Stock führte. Ihre Hauswirtin, eine alte Frau mit der Energie und Quirligkeit einer Achtjährigen, hatte die Vorderseiten der Stufen mit Renaissance-Engeln bemalt, in leuchtend goldenen, roten, purpurnen und königsblauen Tönen.
    Bree stieg der Duft seltsamer exotischer Blumen in die Nase, und sie hörte, wie Pfoten über den Holzfußboden huschten. Lavinia war offenbar oben und kümmerte sich um ihre Kleinen .
    »Ich werde nicht lange bleiben«, verkündete Bree, als sie in den Bürobereich trat. »Cissy hat mich überredet, nach Tybee Island rauszufahren und eine neue Klientin zu besuchen. Ich will nur schnell einen Anruf …« Sie verstummte und blickte im Zimmer umher. »Was ist denn mit Petrus Schreibtisch passiert? Und wo ist er selbst?«
    »In der Küche«, erwiderte Ron steif. » Mitsamt seinem verflixten Schreibtisch.«
    »Und was hat das zu bedeuten?«
    Wie gewöhnlich war Ron makellos gekleidet. Er trug eine gebügelte Baumwollhose, ein gestreiftes Hemd, eine Countess-Mara-Krawatte und Halbschuhe ohne Socken. Er faltete die Hände auf dem Schreibtisch – der ebenfalls wie immer tipptopp aufgeräumt war – und sah Bree düster an.
    »Also, warum ist Petru mit seinem Schreibtisch in die Küche gezogen?«, insistierte Bree.
    »In den Aufenthaltsraum«, verbesserte Ron sie. »Sie haben doch gesagt, es sei professioneller, das Wohnzimmer als Empfangsbereich zu bezeichnen und die Küche als Aufenthaltsraum. Und jetzt ist er im Aufenthaltsraum, weil ich diese russische Schlamperei einfach nicht mehr ertragen konnte. Außerdem summt er bei der Arbeit vor sich hin, Bree.«
    »Deshalb haben Sie ihn gezwungen, in die Küche zu ziehen?«
    »Ich habe ihn überhaupt nicht gezwungen. Er hat sich freiwillig dazu bereit erklärt.« Ron zog die Nase kraus. »Kann allerdings sein, dass ich es ihm … ein wenig nahegelegt habe.«
    Bree hatte sehr schnell herausgefunden, dass die Arbeit mit Engeln keine Garantie für engelhaftes Verhalten war. Ron legte auf geradezu pathologische Weise Wert auf Ordnung. Petru arbeitete wie ein kleiner Maulwurf, der sich zwischen Aktenstapeln vergrub. Außerdem summte er in der Tat bei der Arbeit vor sich hin, und zwar auf eine derart schwermütige Weise, dass Bree unwillkürlich immer an verhungernde Bauern nach der Revolution von 1917 denken musste. Sie holte Luft und rief: »Petru!«
    Kurz darauf hörte sie aus dem Aufenthaltsraum ein dumpfes Stampfen sowie schleifende Schritte, die ihr verrieten, dass Petru mit seinem Stock das Zimmer durchquerte. Als er in den Empfangsbereich trat, blieb er stehen, legte die Hände auf seinen Stock und sah Bree über seinen dichten schwarzen Bart hinweg freundlich an.
    »Sie haben Ihren Schreibtisch in die Küche … ich meine, in den Aufenthaltsraum geschafft?«
    Petru zuckte die Achseln. »Ronald warr mein Gesang zuwiderr.« Petru sprach mit starkem Akzent. Sein geschriebenes Englisch hingegen war beispielhaft. »Außerdem hat er dauerrnd die Papiere zu den Akten gelegt, die ich noch brrauchte.«
    »Weil seine Vorstellung von einem Ablagesystem darin besteht, alles im Zimmer zu verstreuen«, erklärte Ron. »Ehrlich, Bree.
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