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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Autoren: Katherine Boo
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über
seine
Ehre. Im September 2009 behauptete ein Mitarbeiter im Jugendgericht: »Geht wahrscheinlich nächsten Monat los.« Im Oktober hieß es: »In den nächsten drei Monaten vielleicht.« Einer der Polizisten von der Wache Sahar, dem Abdul in Dongri ständig über den Weg lief, machte wenigstens eine klare Ansage: »Gib einfach zu, dass du Einbein das angetan hast! Dann findet sich für alles eine Lösung! Wenn du nicht gestehst, zieht dein Verfahren sich ewig hin, wenn du gestehst, lassen die dich noch heute laufen.«
    Gegen Ende des Jahres 2009 ließ sich Zehrunisa eine besondere Maßnahme einfallen, um Abduls Prozess und endliche Genugtuung zu beschleunigen. Sie suchte einen Sufi-Mystiker auf der Reay Road auf, einen Spezialisten für bessere Zukunftsaussichten, gelockerte Spannungen, abgewendete Flüche und beschwichtigte Geister. Vor allem letztere Fähigkeit fand Zehrunisa attraktiv, denn sie vermutete noch immer Fatimas Geist hinter Abduls schwelender Anklage. Der Mystiker band einen roten Faden um Zehrunisas Handgelenk und schickte sie in einen Hof, wo andere Pilger zu Trommelrhythmen sangen und sich im Kreis drehten. Um einen Baum dort sollte sie einen anderen roten Faden binden. Dann würden die Geister sich beruhigen, versprach er, während er das Geld einsteckte. Trotzdem konnte es nicht schaden, dachte Zehrunisa, zusätzlich an sieben Freitagen in die Moschee zu gehen und in Abduls Namen einen Mannat-Schwur zu leisten.
    Das Jahr 2010 verging, ohne dass Zehrunisas Bemühungen Früchte trugen. Nur die Opferbeauftragte der Regierung von Maharashtra tauchte wieder auf, diesmal mit der Empfehlung, Geld könne schneller zur Eröffnung des Prozesses führen als Gebete. Zehrunisa bedankte sich dafür mit ein paar der schönsten Flüche, die ihr je eingefallen waren.
    Ende 2010 war sie sich mit Abdul einig, dass der Schwebezustand zwischen Schuld und Unschuld wohl auf Dauer sein Lebenszustand war.
    Abdul hielt weiter jedes Mal, wenn er nach Dongri kam, nach dem Master Ausschau. Er wollte seinem Lehrer erklären, dass er sich während seiner letzten Jahre als Junge wirklich um ein ehrenhaftes Leben bemüht hatte, dass er das aber wohl nicht würde durchhalten können, da er mit ziemlicher Sicherheit inzwischen ein Mann war. Als vernünftiger Mann machte man nicht mehr so scharfe Unterschiede zwischen Gut und Böse, Wahrheit und Falschheit, Gerechtigkeit und dem anderen Ding da.
    »Ich hab ’ne ganze Zeitlang versucht, das Eis in mir vorm Schmelzen zu bewahren«, so beschrieb er es. »Aber bald bin ich auch bloß noch Dreckwasser wie alle anderen. Ich sage Allah, dass ich Ihn ganz, ganz toll liebe. Aber ich sage Ihm auch, dass ich kein besserer Mensch sein kann, weil die Welt nun mal so ist.«
    Inzwischen verdienten drei Söhne Geld, es ging langsam wieder bergauf mit den Husains, und als Annawadi niedergerissen wurde, machten sie sich Hoffnungen auf eine der Entschädigungswohnungen. Das waren zwar nur 25  Quadratmeter für eine elfköpfige Familie und weit weg vom Flughafen und seinem Müll, aber es war entschieden besser als Straßenpflaster. Abduls Stimmung verdüsterte sich nur, wenn er an den Anfang des Jahres 2008 zurückdachte. Damals hatten seine Geschäfte geblüht, war die erste Rate für ein kleines Stück eigenen Boden außerhalb der Stadt bezahlt. Inzwischen war das Grundstück in Vasai an eine andere Familie verkauft, und die Husains hatten nicht mal die Anzahlung zurückgekriegt.
    Karam Husain hatte neuerdings die lästige Angewohnheit, über die Zukunft zu reden, als wäre sie ein Autobus: »Der kommt da angefahren, und man denkt immer, man verpasst ihn, aber dann sagt man sich, halt, vielleicht erwisch ich den doch – ich muss einfach noch schneller rennen als je zuvor. Bloß, wie schnell können wir eigentlich noch rennen, jetzt, wo wir alle müde und kaputt sind? Immer soll man zusehen, dass man nichts verpasst, selbst wenn man genau weiß, man erwischt’s nicht mehr, wenn man’s vielleicht lieber sausenlässt –«
    Abdul wollte nichts wissen von solchen Malaisen. Zum Glück hatte er seine Lieferfahrten zu erledigen. Frühmorgens klapperte er Hütte für Hütte in den großen Industrieslums ab und fragte die Vorarbeiter bescheiden: »Gibt’s hier irgendwas, das zu einer Recyclingfabrik muss?« Er lernte sämtliche Nebenstraßen und Holperwege kennen, denn viele der glatten neuen Durchgangsstraßen von Mumbai waren für dreirädrige Gefährte wie seins verboten.
    An manchen Tagen
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