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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Autoren: Katherine Boo
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gewann. Da ich nachgewiesenermaßen schon ungeeignet war, unfallfrei mit einem Riesenlexikon zusammenzuleben, hätte ich auch nicht viel zu verlieren, wenn ich meine Neugier auf fremdes Territorium verlagerte – an einen Ort jenseits meiner sogenannten Erfahrungswelt, wo zwar die Gefahr des Scheiterns groß, menschliches Miteinander aber auch irgendwie sinnvoller war.
    Ich hatte den Eindruck, dass es überhaupt kaum Sachliteratur über Indien gab, gründlich recherchierte Reportagen darüber, wie Menschen mit geringen Einkommen – insbesondere Frauen und Kinder – im Zeitalter der globalen Märkte zurechtkommen. Ich kannte Berichte über Menschen, die sich neu erfunden hatten und im indischen Software-Boom Triumphe feierten. Darin wurde allerdings manchmal geflissentlich übergangen, dass diese Siegertypen schon früh durch ihre Kaste, familiären Reichtum und private Schulbildung privilegiert waren. Ich hatte auch Geschichten von Slumbewohnern gelesen, die in heiliger Demut in einem monochromatischen Jammertal festsaßen – das heißt, bis der (zumeist weiße westliche) Erlöser herbeigaloppierte, um sie zu erretten. Und ich hatte Storys über Gangster und Drogenbarone gelesen, auf deren Wortgewalt Salman Rushdie neidisch wäre.
    Die Slumbewohner, die ich selbst schon kennengelernt hatte, waren weder mythische noch erbärmliche Gestalten. Sie waren auch alles andere als passiv. Sie lebten überall in Indien und in Gegenden, in denen nie Erlöser vorbeikamen, und waren oft höchst erfinderische Improvisationskünstler, die die neuen ökonomischen Möglichkeiten des einundzwanzigsten Jahrhunderts für sich zu nutzen suchten. Manche offiziellen Statistiken gaben kleine Einblicke in die Überlebensstrategien solcher Familien. Leider haben in Indien – wie in vielen Ländern der Welt, mein eigenes eingeschlossen – Statistiken über arme Leute herzlich wenig mit gelebter Erfahrung zu tun.
    Für mich gehört, wenn man sich einem Land verbunden fühlt, immer auch dazu, dass man unbequeme Fragen nach Gerechtigkeit und Perspektiven für seine schwächsten Bürger stellt. Und je besser man diese Schwächsten selbst kennt, desto dringender möchte man nachbohren. Ich würde mir nicht anmaßen, von einem kleinen Ausschnitt auf das Gesamtbild zu schließen, aber ich fand es ganz nützlich, die Einwohner eines einzelnen durchschnittlichen Slums in diesem aufblühenden Land über mehrere Jahre zu begleiten und mitzuerleben, wer vorankam und wer nicht und warum. Dass ich keine Inderin bin, war eine Beschränkung, die sich nicht aus der Welt schaffen ließ, aber ich versuchte, sie mit derselben Methode auszugleichen wie auf unvertrautem Terrain in meinem eigenen Land: indem ich viel Zeit dort verbringe, den Menschen Aufmerksamkeit widme, alles sauber recherchiere, gegenchecke und sicher dokumentiere.
    Die geschilderten Ereignisse sind real, auch die Namen sind echt. Ich bin an einem Tag im November 2007 zum ersten Mal durch Annawadi gegangen und habe Asha und Manju kennengelernt. Und ich habe die Erfahrungen der Annawadier bis zum Abschluss meiner Recherchen im März 2011 dokumentiert, mit schriftlichen Notizen, Videoaufzeichnungen, Tonaufnahmen und Fotos. Manche der Kinder des Slums haben schnell gelernt, mit meiner Videokamera umzugehen, und so haben auch sie die im Buch geschilderten Ereignisse festgehalten. Als besonders leidenschaftlicher Dokumentarfilmer hat sich übrigens einer von Manjus ehemaligen Schülern entpuppt, Devo Kadam.
    Ich habe außerdem über dreitausend amtliche Akten eingesehen, viele erst nach jahrelangen ständigen Anfragen an Regierungsstellen und dem Verweis auf das gesetzlich garantierte Informationsrecht
(Right to Information Act,
2005 ). Die Unterlagen von Behörden – der Polizei von Mumbai, dem Gesundheitsamt von Maharashtra, Bildungsinstitutionen des Bundesstaates und der Zentralregierung, aus Wahlämtern, Stadtverwaltung, städtischen Krankenhäusern und deren pathologischen Abteilungen sowie aus Gerichten – waren doppelt wichtig. Zum einen bestätigten sie viele Einzelheiten der hier erzählten Geschichte. Zum anderen enthüllten sie, auf welche Weise Korruption und Gleichgültigkeit von Amts wegen die Lebenserfahrungen armer Bürger aus dem öffentlichen Gedächtnis tilgen.
    Was ich über die Gedanken der einzelnen Menschen auf den vorangegangenen Seiten geschrieben habe, ist mir und meinen Dolmetscherinnen oder auch anderen in unserer Anwesenheit so berichtet worden. Da, wo ich
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