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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Autoren: Katherine Boo
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kostete das Benzin für die Sucherei nach Aufträgen mehr, als er an Provisionen einfuhr, aber es gab auch gute Tage, an denen sein kleiner Transporter mit Abfall überladen die Straßen entlangknatterte. Für Geld würde Abdul überall hinfahren, je weiter weg von Annawadi, desto besser. Er fuhr sogar bis nach Vapi im Nachbarbundesstaat Gujarat. Er fuhr bis nach Kalyan, bis nach Thane. Aber die meiste Zeit war er innerhalb der Stadtgrenze unterwegs.
    Wenn er spätabends seine Runden drehte, spielte er manchmal mit dem Gedanken, gar nicht zu seiner Familie und in diesen Slum zurückzufahren, den er inzwischen nur noch als »’ne andere Art Knast« empfand. Er malte sich aus, einfach weiterzufahren und irgendwo in der Ferne, oder vielleicht noch lieber Fremde, zu verschwinden. Aber seine Stadt riss ihn am Ende immer wieder aus solchen Träumereien. Busse und Geländewagen rasten auf ihn zu und wichen in letzter Sekunde aus. Kinder liefen unbedacht in den rollenden Verkehr, so wie Fatimas Tochter dauernd, als ob sie gar nicht wüssten, wie wertvoll das eigene Leben ist.
    »Ein Fehler beim Fahren, und ich bin erledigt«, klagte er seiner Mutter gegenüber, wenn er unweigerlich doch wieder in Annawadi ankam. »Da draußen ist so ’ne Hochspannung – man darf nie die Gedanken wandern lassen. Man muss jede Sekunde auf der Hut sein.«
    In Wahrheit verspürte er so etwas wie Macht, wenn er sich mit stecknadelkleinen müden Augen durch den mitternächtlichen Verkehr schlängelte. Vielleicht war diese ganze blinkende Riesenstadt ja wirklich nicht zu bewältigen, aber er bewältigte immerhin ein paar Meter klebrige Straße locker.
     
    Eines frühen Morgens hockte Abdul vor der Video-Bude auf einem schwarzen Müllsack und grübelte über die letzte ergebnislose Fahrt nach Dongri und seine »Irgendwas abzuholen?«-Runde am Abend danach, als Sunil sich auf den Müllsack daneben fläzte. Sie hatten sich schon länger nicht mehr gesehen, weil Abdul dauernd unterwegs war. Sunil schmiegte sich an ihn, wie Beinah-Freunde es manchmal tun.
    »Leihst du mir zwei Rupien für Essen?«
    Abdul schoss hoch. »Ähhh! Du hängst dich direkt unter meine Nase und hast dir nicht mal die Zähne geputzt! Ist ja widerlich. Das Gesicht auch. Geh dich mal waschen! Ich krieg ja schon bei deinem Anblick Angst.«
    »Okay, okay, mach ich gleich«, sagte Sunil und lachte. »Bin grad erst aufgewacht.«
    »Reichlich früh für Diebe.«
    »Bin keiner mehr.«
    Die Preise für Müll waren ganz langsam wieder geklettert, die Polizei prügelte jetzt noch brutaler, und die Security-Leute am Flughafen hatten ihn einmal nackt ausgezogen und ihm den Kopf kahlgeschoren. Sunil hatte beschlossen, lieber wieder Müll suchen zu gehen. Das war der eigentliche Grund, weshalb er auf einem Müllsack neben Abdul auf der Straße saß. Der Tamile, dem die Spielbude gehörte, war sauer, dass Sunil ihm keine gestohlenen Sachen mehr brachte, und ließ ihn nicht mehr in die Hütte.
    Sonu, der Zwinkerer, hatte Sunil die Diebstahlphase fast verziehen, aber nicht die Angewohnheit, nie vorm Morgengrauen aufzuwachen. Sunil wollte sich wieder mit Sonu zusammentun und übte jetzt, früh aufzustehen. Und er arbeitete an irgendetwas, das wirklich half, sich wegen der Arbeit, wegen der er sich selbst als ekelhafte Gesellschaft empfand, nicht auch noch selbst zu hassen. Erase-X half zwar ganz gut, hatte Sunil festgestellt, aber nicht sehr lange.
    »Andauernd überleg ich, wie ich das hinkrieg, dass mein Leben schöner wird, richtiger, aber verbessert hat sich nie was«, sagte er. »Also versuch ich’s jetzt mal anders. Gar nicht mehr überlegen, wie ich irgendwas besser mache, einfach aufhören mit dem Gegrübel, wer weiß, was dann passiert? Vielleicht kommt dann ja was Gutes einfach mal so.«
    Abdul haute ihm eine runter. »Ich werd irre, wenn ich dich so höre«, sagte er. Er kam sich uralt vor neben jemandem, der sich noch Gedanken machte. Wenn der Slum erst abgerissen war, würden sie sich wahrscheinlich nie wiedersehen. Sunil wollte irgendwo anders ein neues Leben anfangen, außerhalb der Stadt, wo es Bäume und Blumen gab, aber Abdul sah Sunil eher auf irgendeinem Bürgersteig schlafen, mitten in der Stadt, sehr bald. Vielleicht waren diese letzten Tage von Annawadi überhaupt die besten, die Sunil noch erlebte.
    Ein großes glänzendes Blatt wehte über die Gasse und landete vor Abduls Füßen. Es war noch kaum vom Dreck in der Luft verfärbt. Abdul hob es auf, zog eine rostige
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