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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Autoren: Katherine Boo
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Rasierklinge aus der Tasche, zerschnitt es in winzige Schnipsel und pustete in die Hand. Grünes Konfetti wirbelte auf Sunils Augenbrauen und seinen geschorenen Kopf.
    »Also, was jetzt?«, fragte Sunil nach einer Minute.
    »Wie was jetzt? Du gehst dir die Zähne putzen und dann an die Arbeit! Du bist sowieso spät dran. Was glaubst du, was jetzt überhaupt noch irgendwo rumliegt?«
    »Okay, bis dann«, sagte Sunil. Er sprang auf, wischte sich die Blattschnipsel ab und lief los. Abdul sah ihm nach. Was für ein schräger, aber anständiger Junge – er wünschte ihm Glück. Und Sunil fand es tatsächlich, eine halbe Stunde später auf einem schmalen Vorsprung hoch oben über dem Mithi.
    Bald würden die Taxifahrer, die da immer ihren Abfall über die Mauer warfen, von ihrem Halteplatz verdrängt werden, damit der neue Flughafen seine ganze Symbolkraft entfalten konnte: als elegantes Tor zu einer der bedeutendsten Weltstädte des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Aber im Augenblick warteten auf dem langen Betonsims noch elf Blechdosen, sieben leere Wasserflaschen und eine zusammengeknüllte Alufolie auf das erste Kind, das den Mut hatte, sie sich zu holen.

[home]
    Nachwort
    I ch habe mich vor zehn Jahren in einen indischen Mann verliebt und ein ganzes Land dazubekommen. Ich solle das aber nicht wörtlich nehmen, ermahnte er mich.
    Als ich meinen Mann zum ersten Mal traf, war ich dreizehn Jahre als Reporterin unterwegs gewesen. Ich hatte mir in den Vereinigten Staaten etliche Armutsviertel von innen angesehen und schreibend darüber nachgedacht, was Menschen in einem der reichsten Länder der Welt wirklich brauchen, um die Armut hinter sich lassen zu können. Als ich nach Indien kam, in eine Nation, die immer wohlhabender und einflussreicher wird und in der gleichzeitig ein Drittel der Armut und ein Viertel des Hungers auf diesem Planeten zu Hause sind, stand ich vor ganz ähnlichen Fragen.
    Ich war bald nur noch wütend über die üblichen rührseligen Elendsbilder aus Indien, diese Schnappschüsse von klapperdürren Kindern mit Fliegen in den Augen und anderen Emblemen des Jammers. Sicher, man entkommt solchen Anblicken nicht, selbst wenn man nur fünf Minuten durch einen Slum geht.
    Mir sind andere Fragen wichtiger – und ich wage zu behaupten, auch den meisten Eltern, deren Kinder in Armut aufwachsen müssen, egal in welchem Land –, aber die Antworten brauchen etwas länger: Gibt es in der jeweiligen Gesellschaft eine Infrastruktur für Chancengleichheit? Wessen Fähigkeiten werden vom Markt und von der jeweiligen Wirtschafts- und Sozialpolitik gefördert? Wessen Fähigkeiten werden brachliegen gelassen? Welche Maßnahmen könnten jenem klapperdürren Kind helfen, in weniger Armut aufzuwachsen?
    Ich hatte eine Reihe weiterer bohrender Fragen bezüglich der Gleichzeitigkeit des zutiefst Ungleichen – Erkennungsmerkmal so vieler moderner Städte. (Neuere Forschungen zur Kluft zwischen wohlhabenden und verarmten Bürgern zeigen, dass in New York und Washington, D. C., ein fast ebenso krasses Gleichheitsgefälle herrscht wie in Nairobi und Santiago de Chile.) Manche Menschen halten es für ein
moralisches
Problem, dass Reichtum und Armut so dicht nebeneinander existieren. Ich dagegen finde faszinierend, wie selten dieses Nebeneinander als
praktisches
Problem wahrgenommen wird. Schließlich gibt es mehr arme als reiche Leute in den Mumbais dieser Welt. Wieso eigentlich sehen Gegenden wie die Airport Road, in der Slums praktisch auf Tuchfühlung mit Luxushotels liegen, nicht aus wie die Bürgerkriegsszenerien in Videospielen? Warum implodieren unsere ungleichen Gesellschaften nicht viel öfter?
    Ich hätte gern ein Buch gelesen, das mir wenigstens ein paar Fragen beantwortet. Es selbst zu schreiben, traute ich mir nicht zu. Ich bin keine Inderin, ich spreche die Sprachen nicht, ich war nicht mein Leben lang in die dortigen Zusammenhänge eingebunden. Ich traute mir nicht mal zu, mit Monsunen und Slumverhältnissen klarzukommen, so miserabel, wie meine Gesundheit seit Jahren war. Meine Entscheidung, es trotzdem zu versuchen, fiel in einer absurd langen Nacht allein zu Hause in Washington, D. C. Ich war über ein Riesenlexikon gestolpert und fand mich plötzlich auf dem Fußboden wieder, inmitten einer immer größer werdenden Lache aus Diät-Brause, mit einer punktierten Lunge und drei gebrochenen Rippen. Ich kam nicht einmal kriechend an ein Telefon. So vergingen Stunden, in denen ich eine gewisse Klarheit
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