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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Autoren: Katherine Boo
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erst im Nachhinein zu begreifen versucht habe, was jemand in einem bestimmten Moment gedacht hat, oder wo ich jemanden mehrmals interviewen musste, um seine Ansichten in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen – was sehr häufig vorkam –, habe ich paraphrasiert. Abdul und Sunil zum Beispiel hatten vorher kaum über ihr Leben und ihre Gefühle gesprochen, nicht einmal mit ihren Familien. Hinter ihre Gedankengänge kam ich nur, indem ich sie immer wieder (sie würden sagen: ohne Ende) zum Erzählen und Faktenabklären drängte, meistens während sie arbeiteten.
    Ich war mir durchaus bewusst, dass das zu Überinterpretationen führen könnte, aber mir schien die Gefahr zu verzerren größer, wenn ich meine Aufmerksamkeit nur der Handvoll Annawadier schenken würde, die über mehr verbale Ausdruckskraft verfügten, also vielleicht farbenfreudigere Zitate zu bieten hatten. Die Alltagssprache all der Menschen, die oft den größten Teil des Tages mit Müll verbringen, schweigend, von der Arbeit ausgelaugt, war eher handlungsgebunden. Sie lässt nicht unmittelbar auf die tief darunterliegende, sehr eigensinnige Klugheit schließen, die trat erst im Laufe der beinahe vier Jahre ganz deutlich zutage.
     
    Wenn ich an irgendeinen Ort gehe, um zuzuhören und zu beobachten, dann nicht, weil ich mir vormache, dass die Geschichten einzelner Menschen allein für sich Argumente sind. Ich bin allerdings überzeugt, dass wir bessere Argumente, vielleicht sogar eine bessere Politik, erst formulieren können, wenn wir mehr über gewöhnliche Lebensumstände wissen.
    Ich habe mich zu Vergleichszwecken auch in anderen Slums länger aufgehalten, mich dann aber aus zwei Gründen auf Annawadi konzentriert: Erstens roch es dort nach Perspektiven, denn auf allen Seiten griff der Wohlstand um sich, und zweitens war das Feld so klein, dass man von Haustür zu Haustür gehen und Leute befragen konnte – wie ein Wandersoziologe, sozusagen. Durch solche Umfragen lernte ich allmählich zu unterscheiden, was nur Randprobleme und was allgemeine Probleme waren, wie etwa die Verweigerung des Wahlrechts für die Immigranten und Hijras von Annawadi.
    Besonders schön war es nicht, dort Reporterin zu sein, vor allem am Anfang nicht. Ich legte zuverlässig lächerliche Auftritte hin, fiel beim Drehen notorisch in den Klärteich und geriet in Konflikt mit der Polizei. Aber die Einwohner hatten drängendere Sorgen als meine Anwesenheit. Ein, zwei Monate hielt ihre Neugier an, dann gingen sie wieder mehr oder weniger ihren Geschäften und ich gleichzeitig ihren Lebensgeschichten nach.
    Der Übergang gelang dank der begabten, großherzigen Mrinmayee Ranade. Sie war in den ersten sechs Monaten des Projekts meine Dolmetscherin, ihre wache Intelligenz, ihr feines Gehör und ihre warmherzige Art sorgten dafür, dass ich die Leute von Annawadi und sie umgekehrt mich kennenlernen konnten. Eine andere wunderbare Dolmetscherin war 2008 die Collegestudentin Kavita Mishra. Und ab April desselben Jahres gehörte die brillante junge Unnati Tripathi als Übersetzerin zum Projekt. Sie hatte Soziologie an der Universität von Mumbai studiert und war anfangs sehr skeptisch gegenüber dieser Frau, die aus dem Westen angereist kam, um etwas über Slumbewohner zu schreiben. Aber bald gewann ihre Zuneigung zu den Annawadiern die Oberhand über ihre Vorbehalte. Sie wurde schnell zu meiner glühenden Co-Investigatorin und kritischen Gesprächspartnerin, und dieses Buch wimmelt geradezu von ihren Einblicken. Drei Jahre lang haben wir gemeinsam immer wieder mit der Frage gerungen, ob tagelanges Herumhocken in rattenverseuchten, müllverstopften Hütten in einem Slum und nächtelange Erkundungszüge mit Dieben an einem neuen Flughafen irgendetwas zum Verständnis dessen beitragen konnten, was das Streben nach Aufstiegschancen in der ungleichen globalisierten Welt bedeutet. Doch, vielleicht, beschlossen wir forsch.
    Die meisten Geschehnisse in diesem Buch habe ich selbst miterlebt. Andere habe ich, kurz nachdem sie passiert waren, in Interviews und anhand von Dokumenten festgehalten. So stammt die Schilderung der Stunden vor Fatima Shaikhs Selbstverbrennung und den Ereignissen unmittelbar danach aus mehrmaligen Interviews mit 168 Menschen sowie aus Akten der Polizei, des Krankenhauses, der Pathologie und der Gerichte.
    Bei meinen Aufzeichnungen zu dieser und anderen Episoden der gesamten Erzählung, in der gegensätzliche Ansichten aufeinanderprallten, erwiesen sich die
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