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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Autoren: Katherine Boo
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zusammengeknüllte Alufolie, vom Monsun skelettierte Regenschirme, gerissene Schnürsenkel, vergilbte Wattestäbchen, verhedderte Tonbandkassetten, zerfetzte Plastikpackungen, in denen einst Barbiepuppen-Imitate gesteckt hatten. Irgendwo da im Dunkeln lagen auch die dazugehörigen Beebees oder Barblies, verkrüppelt von Experimenten, wie sie mit Spielzeug überfrachtete Kinder mit Dingen anstellten, die nicht mehr zu ihren Lieblingen gehörten. Abdul war im Laufe der Jahre auch zum Experten für die Vermeidung jeglicher Ablenkung geworden: Solche Puppen kamen immer mit dem Busen nach unten auf seinen Schrottstapel.
    Geh jedem Ärger aus dem Weg.
Das war Abdul Hakim Husains oberste Handlungsmaxime, an diesem Prinzip hielt er so verbissen fest, dass man es ihm regelrecht ansehen konnte. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen, die Wangen waren eingesunken, sein drahtiger Körper von der Arbeit gekrümmt – er war der Typ, der sich auf den Slumwegen durch das Menschengewimmel fädelte, ohne auch nur so viel Raum zu beanspruchen, wie ihm eigentlich zustand. Fast alles an ihm war eingezogen, außer den abstehenden Ohren und den Haaren, die sich mädchenhaft nach oben kringelten, wenn er sich den Schweiß von der Stirn wischte.
    Ein bescheidenes Auftreten, mit dem man nicht auffiel, war nützlich in Annawadi, in diesem Sumpfloch von einem Slum, in dem er lebte. Hier in den aufstrebenden westlichen Außenbezirken der indischen Finanzmetropole drängten sich dreitausend Leute in 335 Hütten – oder obendrauf. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen von Zuzüglern aus ganz Indien, zumeist Hindus aus allen möglichen Kasten und Unterkasten. Abduls Nachbarn kamen aus so vielen und so verschiedenen Glaubensrichtungen und Kulturen, dass er als einer von nur drei Dutzend Muslims in Annawadi nicht mal annähernd durchfand. Für ihn war dieser Slum gepflastert mit Tretminen aus neuen und uralten Querelen, und er war fest entschlossen, in keine einzige zu tappen. Denn Annawadi war eben auch der ideale Ort für den Handel mit reicher Leute Müll.
     
    Abdul und alle anderen lebten illegal auf einem Stück Land, das der indischen Luftfahrtbehörde gehörte. Zwischen dem Slum und der Zufahrt zum internationalen Terminal des Flughafens von Mumbai lag eine von Kokospalmen gesäumte Durchgangsstraße. Fünf piekfeine Hotels zu Nutz und Frommen der fliegenden Kundschaft zogen einen Halbkreis um Annawadi: vier ornamentüberladene Marmormegalithe und ein schnittiger blauer Glaskasten, das Hyatt. Von deren obersten Etagen aus muteten Annawadi und die anderen illegal besiedelten Flächen an wie ein paar Dörfer, die jemand vom Himmel herab in die Hohlräume der eleganten Modernität gestreut hatte.
    »Um uns rum lauter Rosen«, wie Mirchi, Abduls jüngerer Bruder, es einmal beschrieben hatte, »und wir als Scheiße mittendrin.«
    Seit der Jahrtausendwende boomte die indische Wirtschaft rasanter als jede andere außer der chinesischen, und in der Umgebung des Flughafens waren rosarote Paläste mit Eigentumswohnungen und gläserne Bürotürme hochgezogen worden. Ein Konzern nannte sich schlicht »More«. Immer mehr Kräne für immer mehr Gebäude, von denen das allerhöchste immer mehr Flugzeugen beim Landemanöver im Weg war: Hoch oben über der Oberstadt war ein smogvernebeltes, erfolgsbesessenes Hindernisrennen im Gange und ließ in kleinen Scheinen ein paar Chancen auf die Unterstadt der Slums hinabrieseln.
    Jeden Morgen schwärmten Tausende Müllsammler aus und grasten das Flughafengelände nach verkäuflichem Überfluss ab, nach ein paar Pfund von den achttausend Tonnen Abfall, die Mumbai tagtäglich unter sich ließ. Wie Aasfresser schnappten sie nach zerknautschten Zigarettenpackungen, die aus Autos mit verdunkelten Scheiben geworfen wurden. Wie Straßenkehrer durchkämmten sie Kloaken und durchwühlten Müllcontainer nach leeren Wasser- und Bierflaschen. Wie Plünderer trotteten sie jeden Abend, Jutesäcke voll Müll auf dem Rücken, zurück in ihre Unterstadt. Eine Prozession Nikoläuse mit kaputten Zähnen und viel Sinn für Gewinn.
    Abdul hockte dann schon wartend vor seiner rostigen Balkenwaage. Er war noch ein Teenager, stand aber in der Rangordnung des Müllgeschäfts eine Stufe höher als die Müllsucher. Er war der Händler, der taxierte und ankaufte, was sie gefunden hatten. Und der seinen eigenen Gewinn durch den Weiterverkauf von Müll en gros an kleine Recyclingfirmen ein paar Kilometer weiter erzielte.
    Beim Feilschen
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