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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Autoren: Katherine Boo
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Unschuldsstempel dafür auf die Stirn. Also blieb ihm gar nichts anderes übrig, als sich den Behörden zu stellen, die solche Stempel hatten – der Polizei, der Justiz. Nicht dass ihm seine kurze Lebensgeschichte irgendeinen Anlass geboten hätte, an deren Prinzipien zu glauben. Trotzdem würde er genau das jetzt versuchen.
    Ein Polizist in Khakiuniform mit Epauletten klebte hinter einem grauen Metalltresen. Als er Abdul sah, stand er überrascht auf. Er hatte einen Schnauzbart und darunter fette, fischartige Lippen, an die erinnerte Abdul sich später ganz genau – vor allem daran, wie sie immer erst etwas aufschnappten, bevor der Mann lächelte.

[home]
    Teil Eins
    Die Unterstadt und ihre Bürger
    Die reden alle so in Annawadi –
    na, mein Sohn wird mal Doktor, Anwalt,
    und der macht uns reich. Reine Einbildung,
    sonst gar nichts. Dein Bötchen segelt
    nach Westen, du klopfst dir auf die
    Schulter: »Was bin ich für’n toller
    Steuermann!« Und dann fegt der Wind
    dich doch nach Osten.
    Karam Husain, Abduls Vater

1. Annawadi
    K urz anhalten, Standbild von dem Moment, in dem Officer Fischmaul und Abdul in der Polizeiwache aufeinandertreffen. Zurückspulen, Abdul im Schnelllauf rückwärts, raus aus der Wache, weg vom Flughafen, zurück nach Hause. Flammen, die eine behinderte Frau in einer rosageblümten Tunika umzüngeln, schließlich zusammenschnurren zu einem Streichholzbriefchen auf dem Boden. Fatima, die ein paar Minuten vorher zu einem heiseren Liebeslied tanzt, auf Krücken, die feinen Gesichtszüge noch unversehrt. Noch weiter zurückspulen, sieben Monate früher, anhalten bei einem ganz normalen Tag im Januar 2008 . Die Jahreszeit etwa so verheißungsvoll wie in all den Jahren, seit dieser Slum zusammengezimmert worden war, in der größten Stadt eines Landes, in dem ein Drittel aller armen Leute dieses Planeten lebt. Eines Landes, dem vor lauter Entwicklung und umlaufenden Geldmengen ganz schwindelig ist.
    Der Tag war mit Böen angebrochen, wie oft im Januar, dem Monat der verhedderten Drachen und vergrippten Köpfe. Weil auf dem Fußboden der Hütte nicht genug Platz zum Schlafen für die ganze Familie war, lag Abdul im Kies auf dem Maidan, der einigen Husain-Kindern seit Jahren als Bett diente. Vorsichtig stieg seine Mutter über einen seiner jüngeren Brüder, dann noch einen und bückte sich zu Abduls Ohr. »Wach auf, du Trottel!«, flachste sie. »Oder bist du neuerdings Traumarbeiter?«
    Der abergläubischen Zehrunisa war aufgefallen, dass die Tage, an denen sie ihren Ältesten morgens mit Schimpftiraden überzog, oft mit den besten Gewinnen endeten. Und da die Januareinnahmen eine tragende Säule im jüngsten Husainschen Plan waren, aus Annawadi zu entkommen, hatte sie sich dieses Geschimpfe zur Gewohnheit gemacht.
    Abdul wachte auf, ohne groß zu klagen, denn seine Mutter duldete nur eine einzige Art Klagen, und das war ihr eigenes. Außerdem hatte diese Morgenstunde immer etwas Sanft-Gemächliches, in ihr erschien ihm Annawadi am wenigsten hassenswert. Die bleiche Sonne legte einen funkelnden silbernen Zauber über den Klärteich, und noch waren die Papageien, die am gegenüberliegenden Ufer nisteten, deutlicher zu hören als die Flugzeuge. Nebenan, vor den teilweise nur von Stricken und Klebeband zusammengehaltenen Hütten, machten sich Nachbarn mit feuchten Lappen diskret frisch. Kinder in Schuluniform mit Schlips schleppten töpfeweise Wasser von der öffentlichen Pumpe herbei. Vor dem orangeroten Betonklotz mit den öffentlichen Toiletten stand eine träge Schlange. Selbst die Ziegen hatten noch schlafschwere Augen. Es war ein kurzer Augenblick intimer Häuslichkeit, bevor die große Jagd nach der winzigen Marktnische wieder losging.
    Ein Bauarbeiter nach dem anderen zog zu einer Kreuzung voller Menschen, an der Bauaufseher sich Tagelöhner aussuchten. Junge Mädchen flochten Girlanden aus Ringelblumen, die sich später an Autofahrer auf der Airport Road verhökern ließen. Ältere Frauen nähten rosarote und blaue Flicken auf Baumwollquilts, für eine Firma, die Stücklöhne zahlte. In einer kleinen, brütend heißen Plastikfabrik kurbelten Männer mit nackten Oberkörpern an Maschinen herum, die die bunten Kügelchen zu Verzierungen für Autorückspiegel verarbeiteten – grinsende Entchen und pinkrosa Katzen mit Halskettchen –, und konnten sich nicht vorstellen, dass irgendwer irgendwo so was kaufte. Und auf dem Maidan ging Abdul in die Hocke und machte sich ans Sortieren der
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