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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Autoren: Katherine Boo
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man das machte, sondern auch davon, dass man Unfällen und Katastrophen aus dem Weg ging. Ein anständiges Leben, das war der Zug, unter den man nicht gekommen war, der Slumlord, den man nicht verärgert, die Malaria, die man sich nicht eingefangen hatte. Gut, er wäre schon gern aufgeweckter, aber andererseits war er sicher, eine für seine Lebensumstände fast ebenso wertvolle Eigenschaft zu besitzen. Er war
chaukanna,
wachsam.
    »Meine Augen sehen in alle Richtungen gleichzeitig«, so drückte er es auch aus. Er war sicher, ein Unheil schon kommen zu sehen, wenn man ihm noch ausweichen konnte. Einbeins Verbrennung hatte ihn zum ersten Mal kalt erwischt.
     
    Wie spät war es? Auf dem Maidan brüllte eine Nachbarin namens Cynthia: »Wieso haben die nicht gleich die ganze Familie mitverhaftet?« Cynthia war eng mit Einbein befreundet und hasste die Husains, seit ihre eigene Familie mit ihrem Müllgeschäft Pleite gemacht hatte. »Los, wir gehen zur Polizei und sagen, die sollen wiederkommen und die alle mitnehmen«, wiegelte sie die anderen Nachbarn auf. Aus Abduls Hütte kam nur Schweigen.
    Nach einer Weile hielt sie zum Glück den Mund. Offenbar brach keine allgemeine Zustimmung zu einem Protestmarsch über den Slum herein, im Gegenteil, die meisten waren sauer auf Cynthia, weil sie mit ihrem Geschrei alle aufweckte. Ganz allmählich schien sich die Spannung der Nacht zu lösen, aber plötzlich schepperten überall ringsum Edelstahltöpfe los. Abdul schreckte hoch und war verwirrt.
    Goldenes Licht sickerte durch die Ritzen einer Tür. Einer Tür, die nicht zu seinem Lagerverschlag gehörte. Einer Tür, für deren Identifizierung er eine Minute brauchte. Er hatte seine lange Hose wieder an und lag anscheinend auf dem Boden der Hütte eines jungen muslimischen Kochs, der auf der anderen Seite vom Maidan lebte. Es war heller Morgen. Das Geschepper um ihn herum kam aus den Nachbarhütten, in Annawadi wurde das Frühstück zubereitet.
    Wann und wie war er über den Maidan und in diese Hütte gekommen? Und warum? Die Panik hatte ihm ein Loch ins Gedächtnis gefressen, die letzten Stunden dieser Nacht blieben ihm für immer ungeklärt. Klar war nur eins: Er war im heikelsten Augenblick seines Lebens, in einer Situation, die Mut und Tatkraft erfordert hätte, in Annawadi geblieben und eingeschlafen.
    Im selben Moment wusste er, was jetzt zu tun war: Er musste seine Mutter finden. Er hatte sich als dermaßen fluchtuntauglich erwiesen, dass sie ihm erst einmal sagen musste, was er machen sollte.
    »Und lauf schnell«, fügte Zehrunisa noch hinzu, als sie ihre Instruktionen beendet hatte. »So schnell du kannst!«
    Abdul schnappte sich ein frisches Hemd und flüchtete. Über den Maidan, vorbei an einer krakeligen Reihe von Hütten, weiter auf einer Schotterstraße. Müll und Wasserbüffel auf der Slumseite. Hyatt-Glitzerglas auf der anderen. Im Laufschritt fummelte er Hemdknöpfe zu. Nach knapp zweihundert Metern erreichte er die breite Durchfahrt zum Flughafen mit den blühenden Gärten zu beiden Seiten, Aushängeschilder einer Stadt, die er kaum kannte.
    Sogar Schmetterlinge. Er keuchte an ihnen vorbei und mogelte sich auf das Flughafengelände. Arrivals nach unten. Departures nach oben. Er nahm einen dritten Weg, an einer langen blauweißen Wellblechwand entlang, hinter der Presslufthämmer mit lautem Getöse das Fundament für ein protziges neues Terminal aushoben. Abdul hatte immer mal wieder probiert, die Flughafenabsperrung zu Geld zu machen. Zwei solche Wellblechplatten klauen und verkaufen, und ein Mülljunge könnte sich ein Jahr lang zur Ruhe setzen.
    Er lief weiter, bog scharf nach rechts an einem Halteplatz voll schwarzer und gelber in der Morgensonne glänzender Taxis. Noch einmal nach rechts, in die schattige Kurve einer Auffahrt, über die ein großer, dichtbelaubter Ast ragte. Ein drittes Mal nach rechts und er war bei der Polizeiwache von Sahar.
    Zehrunisa hatte es ihrem Sohn sofort angesehen: Dieser Junge hatte einfach zu viel Angst, um sich vor der Polizei zu verstecken. Sie selbst war auch angsterfüllt aufgewacht, sie fürchtete, dass die Polizisten womöglich ihren Mann verprügelten, zur Strafe dafür, dass Abdul abgehauen war. Und der älteste Sohn hatte die Pflicht, seinen kranken Vater vor so etwas zu bewahren.
    Abdul war bereit, seine Pflicht zu tun, beinah freudig sogar. Untertauchen war etwas für Leute, die sich wirklich schuldig gemacht hatten. Das hatte er aber nicht, und er wollte den
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