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Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
Autoren: Kendare Blake
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das ganze Gebäude pulsiert wie ein leuchtendes Herz vor dem dunklen Nachthimmel. Dann fällt es mit einem lauten Krachen in sich zusammen. Staub, Splitter und Nägel steigen in einer großen Wolke auf.
    Jemand gibt mir Deckung und schützt mich vor der Explosion. Aber ich wollte es sehen. Ich wollte sie ein letztes Mal sehen.

Man hätte meinen können, wir wären auf Unglauben gestoßen mit unserer Geschichte, dass wir uns unsere vielfältigen und schrecklichen Verletzungen bei einem Angriff durch einen Bären zugezogen haben. Besonders wegen Carmel, deren Bissspuren haargenau zu den Verletzungen passen, die in der letzten Zeit bei schrecklichen Verbrechen beobachtet wurden. Es überrascht mich immer wieder, wie gern die Leute alles Mögliche glauben.
    Also ein Bär, na gut. Ein Bär hat Carmel ins Bein gebissen und mich gegen einen Baum geschleudert, weil ich ihn heldenhaft vertreiben wollte. Morfran und Thomas ist es genauso ergangen. Niemand außer Carmel wurde gebissen oder hat die Krallen zu spüren bekommen, und meine Mom blieb völlig unversehrt. Aber was soll’s, so etwas geschieht eben manchmal.
    Carmel und ich sind noch im Krankenhaus. Sie musste genäht werden und bekommt Impfungen gegen Tollwut, was lästig ist, aber das ist eben der Preis für unser Alibi. Morfran und Thomas wurden nicht einmal stationär aufgenommen. Ich liege mit verbundenem
Brustkorb im Bett und versuche, ordentlich zu atmen, damit ich keine Lungenentzündung bekomme. Sie haben meine Leberenzyme und mein Blut getestet, weil ich bei der Einlieferung immer noch die Farbe einer Banane hatte, aber es wurden keine Schäden festgestellt. Alles hat ganz normal funktioniert.
    Mom und Thomas besuchen mich abwechselnd. Jeden Tag fahren sie Carmel mit dem Rollstuhl herein, damit wir zusammen Jeopardy! sehen können. Niemand spricht aus, wie erleichtert wir alle sind, dass es nicht viel schlimmer gekommen ist, und dass wir großes Glück hatten, aber ich weiß, was sie denken. Sie denken, wir sind sehr glimpflich davongekommen. Das mag sein, aber ich will es nicht hören. Und wenn es wahr ist, dann gibt es nur einen Menschen, dem man dafür danken muss.
    Anna hat uns gerettet. Sie hat sich selbst und den Obeah-Mann Gott weiß wohin befördert. Ich überlege immer wieder, ob ich irgendetwas hätte anders machen können. Allzu intensiv denke ich aber nicht darüber nach, denn schließlich hat sie sich geopfert. Mein schönes, dummes Mädchen hat sich für uns geopfert, und ich will nicht, dass sie es umsonst getan hat.
    Es klopft. Thomas steht in der offenen Tür. Ich drücke auf den Knopf meines hydraulischen Bettgestells und fahre das Kopfende hoch, um ihn zu begrüßen.
    »Hallo.« Er zieht sich einen Stuhl heran. »Willst du denn deine Götterspeise nicht essen?«
    »Grüne Götterspeise ist widerlich.« Ich schiebe sie ihm hinüber.
    »Ich mag sie auch nicht. Ich war nur neugierig.«
    Ich lache. »Bring mich nicht zum Lachen, mir tun die Rippen weh.« Er lächelt. Ich bin wirklich froh, dass es ihm gut geht. Dann räuspert er sich.
    »Es tut uns ihretwegen wirklich leid«, sagt er. »Carmel und mir, meine ich. Wir mochten sie, auch wenn sie irgendwie unheimlich war, und wir wissen ja, dass du …« Er unterbricht sich und räuspert sich wieder.
    Ich habe sie geliebt. Das wollte er sagen. Das wussten alle anderen vor mir.
    »Das Haus war verrückt«, fährt er fort. »Wie aus Poltergeist . Nicht am Anfang, sondern in der Szene mit dem unheimlichen alten Mann.« Er räuspert sich immer wieder. »Morfran und ich sind noch einmal hingefahren und haben uns umgesehen. Aber da ist rein gar nichts mehr. Nicht einmal die Geister, die sie behelligt haben.«
    Ich schlucke schwer. Eigentlich sollte ich froh sein, dass sie jetzt frei sind. Aber das heißt auch, dass Anna endgültig verschwunden ist. Ich ersticke fast, weil ich es so ungerecht finde. Da begegne ich endlich einem Mädchen, vielleicht dem einzigen auf der ganzen Welt, mit dem ich wirklich zusammen sein könnte, und wie viel Zeit hatte ich? Zwei Monate vielleicht? Das ist nicht genug. Nach allem, was sie durchlitten hat – nach allem, was ich selbst durchgemacht habe –, hätten wir doch etwas mehr Zeit verdient gehabt.
    Vielleicht auch nicht. Jedenfalls kümmert sich das Leben nicht um Gerechtigkeit und schert sich nicht darum,
ob etwas fair oder unfair ist. In diesem Krankenhausbett hatte ich reichlich Zeit, darüber nachzudenken. In der letzten Zeit habe ich sowieso viel
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