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Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
Autoren: Kendare Blake
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ziehen an die Küste. Da wohnt Robby, ein Freund von mir. Wir können bei ihm wohnen, bis ich bei einem anderen Autohändler einen Job bekomme.«
    »Klar«, antworte ich.
    Der Anhalter wirkt ein wenig traurig und zugleich optimistisch. Sein Gesicht wird vom Mond und vom Armaturenbrett beleuchtet. Natürlich hat er seinen Freund Robby nie besucht, und er hat auch seine Freundin Lisa nicht wiedergesehen. Fünf Kilometer weiter die Straße hinauf ist er im Sommer 1970 in ein Auto eingestiegen, das diesem hier möglicherweise sehr ähnlich war, und hat den Insassen anvertraut, er habe das Startgeld für ein neues Leben in der Jackentasche.
    Wie die Einheimischen erzählen, haben ihn die Täter an der Brücke zusammengeschlagen und zwischen die Bäume geschleppt, ein paar Mal mit dem Messer auf ihn eingestochen und ihm dann die Kehle durchgeschnitten. Anschließend haben sie den Toten eine Böschung hinab in einen Nebenfluss geworfen. Dort
hat ihn beinahe sechs Monate später ein Farmer inmitten wuchernder Schlingpflanzen gefunden. Angeblich stand sein Mund immer noch vor Überraschung offen, als habe er einfach nicht glauben können, dass er dort gelandet ist.
    Jetzt begreift er offenbar nicht, dass er in der Falle sitzt. Keiner von ihnen scheint es je zu begreifen. Der Anhalter pfeift und nickt im Takt zu einer Musik, die nur er hören kann. Wahrscheinlich sind es immer noch die Lieder, die er an dem Abend gehört hat, als sie ihn getötet haben.
    Er ist überaus freundlich, ein angenehmer Beifahrer. Doch sobald wir die Brücke erreichen, wird er so wütend und bösartig sein, wie man es sich kaum ausmalen mag. Angeblich hat sein Geist, den man wenig einfallsreich als den »Anhalter vom County 12« bezeichnet, mindestens ein Dutzend Menschen umgebracht und sechs weitere verletzt. Vorwerfen kann ich es ihm eigentlich nicht. Er hat es nicht bis nach Hause zu seinem Mädchen geschafft, und jetzt will er dafür sorgen, dass auch die anderen nicht mehr nach Hause kommen.
    Wir passieren den Kilometerstein Dreiundzwanzig. In zwei Minuten haben wir die Brücke erreicht. Seit wir hierhergezogen sind, bin ich fast jeden Abend die Straße entlanggefahren und habe gehofft, seinen Daumen im Scheinwerferlicht zu entdecken. Bisher hatte ich kein Glück, bis ich mich ans Steuer dieses Rally Sport setzen konnte. Davor habe ich vergebens den halben Sommer nach ihm gesucht, ständig den
verdammten Dolch unter das Bein geklemmt. Ich mag es nicht, wenn es so läuft. Das ist wie ein Angelausflug, der viel zu lange dauert. Aber ich lasse nicht locker. Früher oder später tauchen sie alle auf.
    Ich nehme den Fuß vom Gas.
    »Stimmt was nicht, mein Freund?«, fragt er.
    Ich schüttle den Kopf. »Das Auto gehört mir nicht, und ich habe nicht genug Geld für die Reparatur, wenn du mich von der Brücke stürzt.«
    Der Anhalter lacht, ein wenig zu laut und gekünstelt. »Mann, ich glaube, du hast was getrunken oder so. Vielleicht lässt du mich lieber hier raus.«
    Zu spät wird mir klar, dass ich es nicht hätte aussprechen sollen. Natürlich kann ich ihn nicht aussteigen lassen. Er würde einfach auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Ich muss ihn entweder während der Fahrt töten oder wieder ganz von vorne anfangen. Allerdings glaube ich nicht, dass Mr. Dean mir das Auto noch öfter leiht. Außerdem ziehen wir in drei Tagen nach Thunder Bay um.
    Mir kommt der Gedanke, dass ich diesem armen Schlucker eine grässliche Wiederholung zumute, aber ich schiebe diese Vorstellung rasch wieder weg. Der Kerl ist ja schon tot.
    Ich fahre die ganze Zeit über achtzig – so schnell, dass er nicht während der Fahrt hinausspringen kann. Nur, dass man bei Geistern nie ganz sicher sein kann. Ich muss mich beeilen.
    Als ich nach unten greife, um die Klinge unter meinem Bein hervorzuziehen, taucht vor uns im Mondlicht
die Silhouette der Brücke auf. Wie aufs Stichwort greift der Anhalter ins Lenkrad und verreißt es nach links. Ich halte dagegen und setze den Fuß auf die Bremse. Die Reifen quietschen zornig auf dem Asphalt, und aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass das Gesicht des netten Beifahrers verschwunden ist. Kein freundlicher Joe mehr, kein mit Pomade geglättetes Haar, kein freundliches Lächeln. Nur noch eine Maske aus verwester Haut, voller schwarzer Löcher, und stumpfe Zähne, die an Kieselsteine erinnern. Es sieht aus, als grinste er, aber das könnte auch einfach daran liegen, dass sich seine Lippen abschälen.
    Obwohl das Auto beim Bremsen
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