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Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
Autoren: Kendare Blake
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Geister schließlich auftauchten – ja, es waren zwei, weil Peter und seine Frau sich anscheinend ausgesöhnt und ein gemeinsames Faible für das Töten entwickelt hatten –, wäre ich beinahe ohnmächtig geworden. Einer kam aus dem Schrank. Sein Hals war purpurfarben angelaufen und völlig schief. Der andere flatterte vom Boden empor wie eine rückwärts laufende Werbung für Papiertücher. Voller Stolz möchte ich hier anmerken, dass die Frau es nicht einmal ganz schaffte, aus den Dielenbrettern hervorzukommen. Mein Instinkt übernahm die Regie, und ich schlug sie nieder, ehe sie etwas tun konnte. Allerdings griff Carver mich an, als ich das Messer aus dem Fleck im Holz ziehen wollte, der früher einmal seine Gattin gewesen war. Er maunzte wie ein Kätzchen und hätte mich fast aus dem Fenster geworfen, während ich an
dem Athame zerrte. Als ich ihn dann niederstreckte, war es beinahe ein Unfall. Der Dolch fuhr wie von selbst in ihn hinein, als er mir das Seil um den Hals schlang und mich herumwirbelte. Dieses Detail habe ich meiner Mutter allerdings nie erzählt.
    »Du weißt es doch besser, Mom«, sage ich. »Nur die anderen Leute glauben, man könne etwas, das schon tot ist, nicht noch einmal töten.« Beinahe hätte ich hinzugefügt, dass Dad es genauso gesehen hat, aber ich verkneife mir die Bemerkung. Sie spricht nicht gern über ihn, und nach seinem Tod hat sie sich verändert. Sie ist nicht mehr ganz da, irgendwie fehlt etwas in ihrem Lächeln. Wie eine verschwommene Stelle, wenn die Kamera nicht richtig scharf gestellt ist. Sie ist ihm überallhin gefolgt, wohin er auch ging. Es ist sicher nicht so, dass sie mich nicht liebt, aber ich glaube, sie hat nie vorgehabt, allein einen Sohn großzuziehen. Ihre Familie sollte ein Kreis sein. Jetzt ziehen wir umher wie ein Foto, aus dem jemand meinen Dad herausgeschnitten hat.
    »Ich habe das ruckzuck erledigt«, sage ich, um das Thema zu wechseln, und schnippe mit den Fingern. »Vielleicht müssen wir nicht mal das ganze Schuljahr in Thunder Bay bleiben.«
    Sie beugt sich über das Lenkrad vor und schüttelt den Kopf. »Denk mal drüber nach, ob wir nicht länger dort wohnen können. Es soll ein richtig netter Ort sein.«
    Ich verdrehe die Augen. Sie weiß doch ganz genau, dass es nicht so läuft. Unser Leben ist nicht ruhig. Wir
sind nicht wie die anderen Menschen, die Wurzeln schlagen und Gewohnheiten entwickeln. Wir sind ein Wanderzirkus. Sie kann es nicht einmal darauf schieben, dass mein Dad gestorben ist, denn auch mit ihm waren wir ständig unterwegs, wenngleich zugegebenermaßen nicht ganz so viel. Genau aus diesem Grund geht sie doch dieser Arbeit nach: Sie legt Tarotkarten, macht Aurareinigungen über das Telefon und verkauft im Internet okkultistisches Zubehör. Meine Mutter ist eine reisende Hexe. Davon kann sie erstaunlich gut leben. Auch ohne das langfristig angelegte Vermögen meines Vaters kämen wir vermutlich sehr gut zurecht.
    Wir fahren jetzt auf einer gewundenen Straße am Lake Superior entlang nach Norden. Ich war froh, aus North Carolina herauszukommen, fort von dem Eistee, dem komischen Akzent und der Gastfreundschaft, bei der ich mich immer unwohl gefühlt habe. Wenn wir reisen, fühle ich mich frei, ich bin einfach nur unterwegs, und erst, wenn ich in Thunder Bay den Fuß aufs Pflaster setze, werde ich wieder das Gefühl haben, dass die Arbeit beginnt. Im Moment genieße ich den Anblick der Kiefern und des Sedimentgesteins am Straßenrand, das Grundwasser weint, wie in ewiger Trauer. Der Lake Superior ist blauer als blau und grüner als grün, und das helle Licht, das durch die Scheiben ins Auto fällt, zwingt mich, trotz der Sonnenbrille zu blinzeln.
    »Wie sieht es denn nun mit dem College aus?«
    »Mom«, stöhne ich und bin auf einmal ziemlich frustriert. So ist sie eben. Halb akzeptiert sie, was ich
bin, halb beharrt sie darauf, ich müsse ein normaler Junge sein. Ich frage mich, ob sie das auch mit meinem Dad gemacht hat. Aber vermutlich nicht.
    »Cas«, stöhnt sie zurück, »auch Superhelden gehen aufs College.«
    »Ich bin kein Superheld«, widerspreche ich. Das ist eine grässliche Schublade. Es ist viel zu selbstherrlich und passt überhaupt nicht. Schließlich fliege ich nicht im bunten Trikot herum, und für mich hält auch niemand öffentliche Lobreden und überreicht mir den goldenen Stadtschlüssel. Ich arbeite im Verborgenen und töte, was tot bleiben soll. Wenn die Leute wüssten, was ich mache, würden sie mich
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