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Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
Autoren: Kendare Blake
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Wetterleuchten, das nicht mit Niederschlägen einhergeht, nähert sich unserem Haus am Hügel. Meine Klinge, die sich sonst so beruhigend und fest anfühlt, zittert und bebt, als ich sie über Annas Arm ziehe. Das schwarze Blut läuft in einer breiten Bahn herab, benetzt die Haut und tropft schwer auf die staubigen Bodenbretter.
    Die Kopfschmerzen bringen mich um. Aber ich muss einen klaren Kopf behalten. Als wir beide die wachsende Blutlache beobachten, spüren wir es. Irgendetwas verdichtet sich in der Luft, eine unbestimmte, nicht greifbare Kraft. Im Nacken und auf den Armen richten sich uns die Haare auf. Wir springen auf.
    »Er kommt«, sage ich so laut, dass es auch im ersten Stock alle hören können. Sie sind schon am Geländer und blicken herunter. »Mom, geh in eins der hinteren Zimmer, deine Arbeit ist getan.« Sie will nicht weichen, zieht sich aber trotzdem wortlos zurück, obwohl ihr ein ganzer Roman voller Sorgen und Ermutigungen auf der Zunge liegt.
    »Mir ist übel«, flüstert Anna. »Es zieht mich herunter, genau wie beim ersten Mal. Hast du zu tief geschnitten?«
    Ich taste nach ihrem Arm. »Ich glaube nicht. Ich weiß es nicht.« Das Blut tropft, so wie es gedacht war, aber es ist tatsächlich sehr viel. Wie viel Blut hat ein totes Mädchen?
    »Cas«, sagt Carmel. Es klingt erschrocken. Ich blicke nicht in ihre Richtung, sondern zur Tür.
    Ein feiner Dunst wallt von der Veranda herein, er dringt durch die Risse und erf orscht wie eine suchende Schlange den Boden. Ich weiß nicht, womit ich gerechnet habe, aber sicher nicht mit so etwas. Ich glaube, ich habe erwartet, er werde die Tür aus den Angeln reißen, als dunkle Silhouette im Mondlicht stehen und ein wirklich böses, augenloses Gespenst spielen.
    Der Dunst kreist uns ein. So trickreich wir auch sind, wir knien erschöpft in dem Raum, und es wirkt, als hätten wir uns mit der Niederlage abgefunden. Anna sieht tatsächlich noch toter aus als sonst. Hoffentlich geht es nicht schief.
    Dann ballt sich der Dunst zusammen, und ich starre wieder den Obeah-Mann an, der mit seinen zugenähten Augen zurückstarrt.
    Ich hasse es, wenn sie keine Augen haben. Leere Augenhöhlen, trübe Augäpfel oder Augen an der falschen Stelle, das kann ich alles nicht ausstehen. Es bringt mich völlig aus der Fassung, und das ärgert mich.
    Über uns setzt der Sprechgesang ein. Der Obeah-Mann lacht darüber.
    »Ihr könnt mich binden, wie ihr wollt«, sagt er. »Ich kriege auf jeden Fall, was ich haben will.«
    »Versiegelt das Haus«, rufe ich zu den anderen hinauf. Mühsam richte ich mich auf. »Ich hoffe, du bist gekommen, weil du mein Messer im Bauch spüren willst.«
    »So langsam gehst du mir auf die Nerven«, sagt er, aber ich denke nicht weiter nach. Ich kämpfe jetzt, springe ihn an und versuche, trotz des pochenden Kopfs nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ich wirbele das Messer herum und kämpfe gegen die Steifheit in der Seite und im Oberkörper an.
    Er ist schnell und geradezu lächerlich beweglich für ein augenloses Wesen, aber schließlich dringe ich zu ihm durch. Ich spanne mich an wie ein Bogen, als ich spüre, wie sich die Messerklinge in seine Seite bohrt.
    Er weicht rasch zurück und legt eine tote Hand auf die Wunde. Doch mein Triumph ist nicht von Dauer. Ehe ich es richtig begreife, ist er schon wieder vorgestürmt und schleudert mich gegen eine Wand. Erst als ich daran hinabrutsche, wird mir bewusst, dass ich überhaupt dagegengeprallt bin.
    »Bindet ihn, schwächt ihn!«, rufe ich, aber in diesem Augenblick krabbelt er schon wieder los wie eine verdammte Spinne, hebt das Sofa hoch, als wäre es ein aufblasbares Plastikmöbelstück, und schleudert es auf mein magisches Team im ersten Stock. Sie schreien auf, als das Sofa sie trifft, aber ich habe keine Zeit, mich zu vergewissern, dass ihnen nichts passiert ist. Als Nächstes packt er mich an den Schultern und zerrt mich hoch, um mich erneut gegen die Wand zu werfen. Als ich ein Knacken wie von trockenen Ästen
höre, weiß ich, dass er mir mehrere Rippen gebrochen hat. Vielleicht den ganzen Brustkorb.
    »Der Athame gehört uns«, sagt er mir ins Gesicht. Süßer Rauch quillt aus seinem stinkenden Zahnfleisch. »Es ist wie Obeah – es ist der Wille , der zählt, und zwar deiner wie meiner. Aber was glaubst du wohl, wessen Wille stärker ist?«
    Der Wille. Über seine Schulter hinweg sehe ich Anna, deren Augen schwarz angelaufen sind. Sie windet sich in ihrem blutroten Kleid und starrt
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