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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben
Autoren: Freda Wolff
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VORSPIEL
    Ihr ist kalt. Sie friert. Gleichzeitig spürt sie deutlich den dünnen Schweißfilm auf ihrer Stirn. Sie hat Durst. Ihr ist übel. Sie muss dringend pinkeln.
    Ihre Arme sind hinter ihrem Rücken zusammengebunden, das Klebeband schneidet schmerzhaft in die Haut der Handgelenke.
    Auch ihre Beine sind eng umwickelt, als hätte jemand absolut sichergehen wollen, dass sie keine Chance hat, sich zu befreien. Ihr Rock ist bis über die Hüfte hinaufgeschoben, das T-Shirt ist zerrissen.
    Als sie sich mit einem Ruck auf die Seite rollt und mit dem Gesicht auf dem Boden aufkommt, schürft ihr ein Holzsplitter die Lippe auf. Sie spürt, wie ein Blutfaden über die Wange läuft, unwillkürlich versucht sie, mit der Zunge über die Wunde zu lecken, deutlich kann sie das Blut schmecken.
    Sie hat keine Ahnung, wie lange sie bewusstlos war. Noch weniger weiß sie, wo sie ist oder wie sie hierher gelangt sein könnte. Der Raum um sie herum liegt nahezu vollständig im Dunkeln. Vage kann sie die Umrisse einer Tür ausmachen, eine scharfkantige Lichtritze zwischen Tür und Rahmen. Es scheint kein Fenster zu geben. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, erkenntsie einen umgestürzten Farbeimer, leere Bierflaschen, einen Pizzakarton, an dem noch die Käsereste kleben, einen wackligen Tisch, dessen fehlendes Bein durch aufeinandergestapelte Plastikkisten ersetzt ist.
    Die Aufschrift auf den Kisten kann sie nicht entziffern, dazu reicht das Licht nicht. Die auf dem Beton eingetrocknete Farbe aus dem Eimer schimmert leicht, als würde sie irgendeinen fluoreszierenden Bestandteil haben. Vor der hinteren Wand liegt etwas, dessen Konturen sie nicht zuordnen kann. Der Größe und Form nach könnte es ein zusammengekrümmter Körper sein.
    Sie wartet auf eine Bewegung, auf irgendein Geräusch, aber da ist nichts, nur ihr eigener Herzschlag, der das Blut in ihren Ohren pulsieren lässt. Sie braucht lange, bis sie begreift, dass sie nur auf ein altes Fischernetz starrt, das achtlos in der Ecke zusammengeschoben worden ist. Erleichtert stößt sie den Atem aus, den sie unwillkürlich angehalten hat.
    Die Luft im Raum ist stickig und heiß, es riecht nach Moder. Brackwasser. Dieselöl. Vielleicht ein Bootsschuppen, denkt sie, irgendwo in einer Bucht zwischen den Felsen am Meer. Das entfernte Rauschen, das sie jetzt wahrnimmt, könnte von der Brandung vor den Schären stammen.
    Gleich darauf meint sie auch, eine Möwe schreien zu hören. Nur ganz kurz, dann übertönt plötzlich das nervtötende Summen einer Mücke, die sie umschwirrt, jedes andere Geräusch. Und das Pochen in ihrem Kopf, das mit jeder Sekunde stärker zu werden scheint und jeden klaren Gedanken verhindert.
    Erst als die Mücke dicht unter ihrem Auge zu saugen beginnt, kommt sie auf die Idee, um Hilfe zu schreien.Aber ihre Stimme ist nicht viel mehr als ein heiseres Krächzen. Ihr Mund ist so trocken, dass sie kaum die Lippen auseinanderbringt. Erst der zweite Versuch gelingt ihr besser.
    »Hilfe! Ist da jemand? Ich bin …«
    Hier, will sie rufen, hört mich jemand?
    Aber sie bricht mitten im Satz ab. Vielleicht ist da wirklich jemand, denkt sie. Jemand, der mich bewacht. Draußen vor dem Schuppen. Detr nur darauf wartet, dass ich irgendein Lebenszeichen von mir gebe. Und wenn ich um Hilfe schreie, wird er kommen und mich bestrafen …
    Sie hat Angst. Ihre Muskeln verkrampfen sich. Sie fängt an zu zittern und beißt sich auf die geschwollene Lippe. Schmeckt wieder das Blut und spürt erneut die Übelkeit in sich hochsteigen.
    »Hilfe!«, stößt sie noch einmal hervor, und diesmal ist es mehr ein verzweifeltes Schluchzen als ein wirklicher Hilferuf.
    Aber sie weiß es ohnehin schon. Da ist niemand vor dem Schuppen. Es wird auch niemand kommen und sie befreien. Und keine Hand wird sie an der Schulter rütteln, um sie aus ihrem Albtraum aufzuwecken.
    Der Albtraum ist Wirklichkeit. Und es gibt nur eine einzige Person, die überhaupt weiß, wo sie ist. Der, der ihr das hier angetan hat. Sie ist sich sicher, dass es ein Mann sein muss. Sie ist sich nicht sicher, ob sie wirklich will, dass er zurückkommt.
    Im nächsten Moment wird ihr schlagartig klar, dass er ihre einzige Chance ist. Ohne ihn wird sie hier … verdursten. Verhungern. Von irgendwelchen Wildtieren aufgefressen, die über kurz oder lang den Weg in den Schuppenfinden werden. Marder. Ratten. Vielleicht ein Fuchs. Ein streunender Hund.
    Das schmerzende Pochen in ihrem Kopf ist jetzt so stark, dass
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