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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben
Autoren: Freda Wolff
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Trennung hatte Merette Schulman, geschiedene Andersen, damals gerade neununddreißig Jahre alt und Diplompsychologin, sich glatt zu einem Leben ohne jeden Sex entschieden. Und behauptete auch noch bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit, dass ihre Abstinenz ihr eine »unvorstellbare geistigeFreiheit« ermöglichen würde – was immer sie damit meinte, aber die Trennung lag mittlerweile fast zehn Jahre zurück, und Julia machte sich schon länger ernsthaft Sorgen um ihre Mutter.
    Julia wusste selbst nicht, warum sie dann noch mal einen Blick in die CD-Hülle warf, statt sie einfach nur einzustecken. Vielleicht war sie unbewusst daran gewöhnt, dass eine CD-Hülle bei Merettes bekannter Abneigung gegen jede Form einer sinnvollen Ordnung noch lange nicht bedeutete, dass auch die CD drin war. War sie auch nicht, die Hülle war leer. Automatisch griff Julia nach der Fernbedienung auf dem Schreibtisch. Die Anlage lief wie üblich auf Stand-by, und Julia war überzeugt, gleich Amy Macdonald über Victoria Beckham singen zu hören, »but the footballer’s wife tells her troubles and strife …«
    Stattdessen kam eine Männerstimme aus den Lautsprechern. Julia brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass es keine CD war, sondern dass sie gerade die Aufzeichnung eines Therapiegesprächs hörte. Dann sah sie auch den USB-Stick in der Anlage stecken. Genervt wollte sie die Wiedergabe unterbrechen, als ein Satz fiel, der sie aufhorchen ließ: »Ich war vierzehn, als ich meinen ersten Mord begangen habe. Mit vierzehn sollte man niemanden umbringen, das ist zu früh. Vielleicht war das auch der Grund, warum es mir nichts ausgemacht hat. Wissen Sie, ich meine, vielleicht habe ich es ja gar nicht richtig begriffen, was ich da gemacht habe. Das könnte doch sein, oder?«
    Julia hörte, wie sich ihre Mutter räusperte.
    Langsam ließ Julia sich in den schweren Ledersessel sinken, in dem auch ihre Mutter während des Gesprächs wahrscheinlich gesessen hatte. Wie üblich mit dem Kopfin die Hand gestützt und den Blick irgendwo ins Leere gerichtet, um zu signalisieren, dass sie aufmerksam zuhörte, ihr Gegenüber jedoch nicht bedrängen wollte.
    »Und was bringt Sie auf die Idee, dass es Ihnen nichts ausgemacht hat?«, kam leise die Stimme von Merette.
    »Ich dachte, das wäre vielleicht eine Erklärung dafür, dass … Also, ich hatte irgendwie Spaß daran. Ich fand es gut.«
    »Können Sie das ein bisschen genauer beschreiben?«
    »Wie jetzt, genauer beschreiben? Ist doch ganz einfach! Ich hatte Spaß daran, die kleine Schlampe zappeln zu sehen, während ich sie immer wieder unter Wasser gedrückt habe. Bis sie aufgehört hat zu zappeln.«
    »Sie kannten das Mädchen?«
    »Natürlich. War ja meine Schwester.«
    »Und was genau hatte Ihre Schwester Ihnen getan, dass Sie meinten … sie bestrafen zu müssen?«
    »Sie sind echt clever. Woher wissen Sie, dass ich sie bestrafen wollte?«
    »Ich dachte, das wäre vielleicht der Grund gewesen, dass Sie …«
    »Exakt. Sie war immer so … Sie wissen schon, wie kleine Mädchen manchmal so sind.«
    »Nein, ich weiß nicht, was Sie jetzt meinen. Versuchen Sie, mir das zu erklären.«
    »Natürlich wissen Sie ganz genau, wovon ich rede. Sie sind clever, ich hab’s ja gesagt. Und meine kleine Schwester war genau so. Nein, stimmt nicht. Sie war nicht clever, sie hat nur gedacht, sie wäre es. Deshalb musste ich sie bestrafen. Ich mag es nicht, wenn jemand denkt, er wäre schlauer als alle anderen.«
    Pause.
    Julia meinte, den Typen auf der Aufnahme atmen zu hören. Und da war auch noch irgendein anderes Geräusch, als würde jemand unentwegt mit dem Fuß auf den Boden klopfen. Dieses nervöse Klopfen kam ganz bestimmt nicht von ihrer Mutter. Als Merettes Patient unvermittelt weiterredete, hatte seine Stimme einen neuen Unterton, den Julia nicht einordnen konnte.
    »Jetzt überlegen Sie, was Sie damit machen, richtig? Könnte ja vielleicht sein, dass das immer noch so ist. Dass ich es nicht abkann, wenn sich jemand für clever hält. Und ich hab ja gerade gesagt, dass Sie clever sind. Aber Sie müssen genau zuhören, sonst läuft das nicht. Sie sind clever, habe ich gesagt, nicht, Sie halten sich für clever, das ist ein Unterschied.«
    »So geht das nicht, so kommen wir nicht weiter. Lassen Sie mich da bitte raus. Sie wollten mir erzählen, warum Sie …«
    »Nein, wollte ich nicht. Aber wie wär’s, wenn Sie mir zur Abwechslung mal was von sich erzählen? Also, ich meine, was machen
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