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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott
Autoren: Richard David Precht
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haben, bildet dafür eine gute Basis. Erst eine umfassende Bildung differenziert unsere Gedanken, unsere Vorstellungen und mit ihnen unsere Gefühle. Das gesellschaftliche Endziel der Bildung ist dann der souveräne Umgang mit der eigenen Freiheit in der Gesellschaft. In diesem Sinne ist die Pädagogik, wie Immanuel Kant (1724 –1804) schreibt, » Erziehung zur Persönlichkeit, Erziehung eines frei handelnden Wesens, das sich selbst erhalten, und in der Gesellschaft ein Glied ausmachen, für sich selbst aber einen innern Wert haben kann « .
    Sich bilden ist also nicht mehr nur eine Sache, die der Gebildete allein mit sich und Gott in seiner Studierstube ausmacht. Man muss sich auch fragen, was für eine Rolle man in der Gesellschaft spielen möchte. Es ist, in einer Formulierung Georg Wilhelm Friedrich Hegels über Goethes Bildungsroman Wilhelm Meister, ein » Spagat zwischen der Poesie des Herzens und der Prosa der Verhältnisse « . Vergleichbare Bildungskonzepte gibt es bei Johann Gottfried Herder, Johann Friedrich Herbart, Friedrich Schiller, Johann Heinrich Pestalozzi oder Friedrich Schleiermacher. Immer geht es um den Prozess, in dem der Mensch seinen Horizont stückweise erweitert und sich dabei selbst vervollkommnet. Und das Ziel ist erreicht, wenn er dabei sein eigenes Wesen mit der Welt in Harmonie bringt.
    In seiner prätentiösen Verwaschenheit und seiner bewussten Innerlichkeit ist der Bildungsbegriff eine spezifisch deutsche Erfindung. Vergleichbares existiert in Frankreich und England nicht. Wo Nationalstaaten vorherrschten – statt eines Gebietsteppichs wie in Deutschland –, war der Bildungsbegriff in einem gesellschaftlichen Stand aufgehoben und in Institutionen konfektioniert. Der Homme de lettres, wie er im 18. Jahrhundert in Frankreich auftrat, war nicht allein durch seine Bildung und seine damit verbundene gesellschaftliche Rolle als Erzieher gekennzeichnet. Er war ein moderner Berufsintellektueller, dessen Stand durch die Mitgliedschaft in Akademien und Gesellschaften markiert und dessen Gedankengut urheberrechtlich geschützt war.
    Berufsintellektuelle solchen Zuschnitts fand man in Deutschland im 18. Jahrhundert kaum, und sie haben, anders als in Frankreich, bei uns bis heute keine echte Tradition. Eine andere Spielart des gebildeten Menschen ist der englische Gentleman. Zunächst war er so etwas wie ein tadelloser Adeliger. Doch seit der Aufklärung beanspruchten auch Geistesaristokraten Mitglieder dieser exklusiven Kaste zu sein, die mehr als alles andere durch eine Haltung gekennzeichnet war: viel zu wissen, viel zu können, die richtigen Schulen besucht zu haben, viel zu beeinflussen und immer die nötige Würde zu bewahren und sich nobel zu benehmen.
    Um ein solches Konzept wie die deutsche » Bildung « hervorzubringen, spielten viele unterschiedliche Faktoren zusammen. Der Mangel an einer breiten und institutionalisierten Öffentlichkeit wie in Frankreich oder England dürfte ein wichtiger Grund gewesen sein. Statt Streitschriften zu verfassen und Debatten anzuheizen, zielte die deutsche Bildung mangels einer gesamtdeutschen öffentlichen Streitkultur eher nach innen, auf die individuelle Gesinnung. Unterstützt wurde diese Tendenz zur Innerlichkeit durch den starken Einfluss des Protestantismus auf das deutsche Bildungsideal. Für den Protestanten war Bildung das Ergebnis einer beständigen Arbeit an sich selbst. Und sich bilden bedeutete, sich einer beständigen intellektuellen Gewissensprüfung auf Herz und Geist zu unterziehen. Bildung errang man also nicht, indem man sich in Debatten, Zirkeln und Akademien intellektuell bewährte, sondern indem man sich weitgehend privat selbst veredelte. Hegel (1770 –1831) hat diesen Innerlichkeitskult schon in dessen Blütezeit kritisiert, als er zu Anfang des 19. Jahrhunderts schrieb, dass das » Fürsichsein « den » Verlust seiner selbst « bedeute, weil es ohne echten Austausch mit anderen auch gar kein echtes Wissen und erst recht gar keine Bildung gibt. 7
    Eine wohlverstandene Bildung, so könnte man folgern, ist nicht etwas, was man hat, sondern etwas, das man praktiziert. Doch genau dieser wichtige Gedanke traf im 18. und 19. Jahrhundert auf eine starke Barriere. Wer nämlich in humanistisch-aufklärerischem Geist für das Menschenrecht auf Bildung focht, der musste sich gegen das starke Konkurrenzkonzept durchsetzen, dass Menschen ein Anrecht auf Ausbildung besäßen. Es leuchtete den deutschen Fürsten und Potentaten zwar ein,
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