Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott
Autoren: Richard David Precht
Vom Netzwerk:
Nationalerziehung « wiederbelebt worden. Dass die Kinder vom sechsten Lebensjahr an in eine Schule gehen, dass sie in Klassen jahrgangsweise rekrutiert, dass die Schulen aus Steuermitteln finanziert werden – all dies wird nun flächendeckend organisiert.
    Auf den Elementarunterricht folgt als nächste Stufe der Schulunterricht und – bei Bedarf – der Universitätsunterricht. 1810 gründet Humboldt die Berliner Universität. Geistesheroen wie der Philosoph Johann Gottlieb Fichte, der Theologe Friedrich Schleiermacher oder der Jurist Friedrich Carl von Savigny kommen hier in Amt und Würden.
    Das hohe Tempo, das der außergewöhnliche Moment vorgibt, lässt Humboldt kaum Zeit, seine Ideen zu fertigen Konzepten ausreifen zu lassen. Es sind, in seinen eigenen Worten, » kaum mehr als in Eile hingeworfene Skizzen « . Bei alledem hält er unbeirrbar an der Vorstellung einer » allgemeinen Menschenbildung « fest, die nicht einen bestimmten Beruf zum Ziel hat, sondern » die Ermöglichung eines weiterführenden Lernens « . Neben der Vermittlung von Wissen geht es in der Schule vor allem darum, das Lernen zu lernen. » Der junge Mensch « , so schreibt Humboldt in seinem Königsberger Schulplan, » ist also auf doppelte Weise, einmal mit dem Lernen selbst, dann mit dem Lernen des Lernens beschäftigt. «
    Schulen sollen helfen, die Persönlichkeit von Kindern zu entwickeln. Sie sollen den Heranwachsenden helfen, sich so gut wie möglich in der Welt zurechtzufinden. Und die Aufgabe des Lehrers ist es, sich dabei nach und nach überflüssig zu machen. Ist dieses Ziel erreicht, so besitzt der junge Mensch die Reife, an der Universität zu studieren. Und an was für einer Universität! Für Humboldt ist die Hochschule ein Ort, wo Studenten und Professoren gemeinsam forschen, gemeinsam nachdenken und ihr Fach auf diese Weise weiterbringen; eine Art Kunsthochschule für Intellektuelle mit Professoren als Coaches und Mentoren.
    Ein Bildungssystem wie das, was Humboldt skizziert, kennt kein Sitzenbleiben und keine Noten. Wozu auch? Wenn das Ziel Persönlichkeitsentwicklung heißt, sind Fachprüfungen zweitrangig. Wichtiger als das Erreichen eines festgelegten Wissensstands innerhalb eines Schuljahrs ist das Erlangen einer individuellen Stufe der Persönlichkeitsentwicklung. Und diese lässt sich gewiss nicht durch ein Dokument mit Ziffern ausdrücken, sondern allenfalls in Form eines schriftlichen Gutachtens als Abgangszeugnis.
    So weit die Poesie des Herzens. Doch was war mit der Prosa der Verhältnisse? Oder anders gefragt: Was hielten Humboldts Zeitgenossen von dessen neuer aufgeklärter und humanistischer Pädagogik? Nicht allzu viel, lautet die Antwort, von seinen Mitstreitern und Freunden einmal abgesehen. Dass aus den zahlreichen guten Ideen dieser Zeit nicht viel wurde, gilt allerdings nicht nur für die Bildungsreform. Nach Preußens Sieg über Napoleon und dem Wiener Kongress von 1814/1815 blieb von den Modernisierungsplänen auf allen Gebieten oft nur Stückwerk übrig. Dem französischen Beispiel zu folgen und einen modernen Bürgerstaat mit echten Staatsbürgern hervorzubringen, schien auf einmal gar nicht mehr unbedingt notwendig. Preußen blieb damit ein absolutistischer Obrigkeitsstaat, eine kommode Diktatur, zusätzlich ausgestattet mit einigen bürgerlichen Kriegsgewinnlern. Gerade diese aber sorgten dafür, dass sich nicht mehr allzu viel Revolutionäres und Demokratisches tat. Auch die Kirche und der Adel achteten darauf, dass ihre kirchlichen Schulen, ihre Ritterakademien in Liegnitz und Brandenburg an der Havel und ihre Kadettenschulen in Berlin, Kulm und Kalisch blieben, was sie waren. Sie dienten der zukünftigen Elite weiterhin als privilegierte Kaderschmieden. Der Elementarschulbesuch der Landbevölkerung erwies sich leider als unregelmäßig, weil die Eltern ihre Kinder weiterhin bei der Feldarbeit einsetzen mussten. Und die Ausbildung der Gymnasiallehrer scheiterte oft genug daran, geeignetes Personal zu finden.
    Humboldts Erwartungen wurden enttäuscht. Das Innenministerium behielt die Kontrolle und sorgte dafür, dass die Bildungspolitik, nicht wie Humboldt erhofft hatte, » frei und nach bildungstheoretischen Gesichtspunkten durchgeführt « wurde. Der preußische Staat hatte nie vor, ein von unmittelbar praktischen Verwertungszwecken freies Bildungssystem zu etablieren. Dass Bildung nicht verzweckt werden darf, um ihren Zweck zu erfüllen, leuchtete den Hütern der öffentlichen Ordnung zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher